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Reiseerinnerungen

Faksimile-Darstellung und Transkription der 117 Seiten des Tagebuchs, das Robert Grimm im Jahre 1902 auf seiner Reise von Graz nach Gorizia (Teil 1) und von Gorizia nach Wald ZH (Teil 2) geführt hat.
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Einführung
(Monika Wicki)

Robert Grimm wurde am 16. April 1881 als Sohn eines Fabrik-mechanikers und einer Weberin im Sagenrain in Wald ZH geboren. Im Ersten Weltkrieg lud er namhafte Politiker und Politikerinnen zu den sozialistischen Friedenskonferenzen in Zimmerwald und Kienthal ein. 1918 organisierte er als Vorsitzender des Oltener Aktions-komitees den Landesstreik.

Robert Grimm war Zürcher und Berner Nationalrat, Berner Stadtrat und Gemeinderat sowie Regierungsrat des Kantons Bern. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er 1946 zum Präsidenten des Nationalrates gewählt. Robert Grimm ist eine bedeutende Schweizer Persönlich-keit; er hat die schweizerische und die europäische Politik massgeblich geprägt.

Nach Abschluss seiner Lehre als Buchdrucker in Zürich (1895-99) und einem kurzen Aufenthalt in Horgen ging Robert Grimm mehrere Jahre auf Wanderschaft. Unter anderem wanderte er vom 4. Mai 1902 bis zum 7. Juli 1902 als Walzbruder von Graz nach Triest und Görz und anschliessend von Görz nach Wald ZH.

Robert Grimm hielt seine Erinnerungen während der Reise in einem Tagebuch handschriftlich fest. Der Weg führte von Graz über Laibach nach Triest und Görz, 425 km, die Robert Grimm in 21 Tagen absolvierte. Nach vier Wochen Arbeitsaufenthalt in Görz wandert er weiter über Villach, Bozen, St. Moritz, Chur und Glarus nach Wald ZH, seinem Geburtsort. Das sind 700 km, die er in 22 Tagen marschierte. Teilweise nahm er auch Zug und Kutsche. Die Reise-erinnerungen enden abrupt am 30. Juni 1902 in Schluderns: „Ich war mir beim Einschlafen bewusst, dass es nun voraussichtlich das letzte Mal sein werde, wo mir Österreichs Boden, auf dem ich mich…“ Für den Schluss hat der junge Grimm zu Hause keine Zeit mehr gefunden.

Seit 2017 laufen die Arbeiten an einem Robert-Grimm-Wanderweg, der "Via Grimm". Die Robert-Grimm-Gesellschaft arbeitet dafür zusammen mit Fritz Brönnimann, ehemaliger Gemeindepräsident der Gemeinde Wald BE (vormals Zimmerwald), Wanderbuchautor und Wanderleiter der Berner Wanderwege. Als Grundlage für den Weg dienen die 1902 verfassten Reiseerinnerungen, die bereits anlässlich der Ausstellung zu Robert Grimm 2011 im Heimatmuseum Wald ZH teilweise transkribiert wurden. Gleichzeitig mit der Gestaltung des Wanderwegs hat Andreas Berz diese Transkription überarbeitet, vervollständigt und kommentiert. Die Erinnerungen sind heute auf der Website der Robert-Grimm-Gesellschaft für alle zugänglich. Zudem hat Webdesigner Res Brandenberger die Reiseroute auf einer interaktiven Karte für die Website vorzüglich aufbereitet.

Grimms Reiseerinnerungen sind mir ein erstes Mal im Herbst 2010 in die Hände gefallen. Damals bereiteten wir eine Ausstellung über Robert Grimm im Heimatmuseum Wald ZH vor und waren auf der Suche nach Ausstellungsobjekten. Gemeinsam mit Katharina Altenburger, der damaligen Kuratorin des Heimatmuseums und Gründungsmitglied der Robert-Grimm-Gesellschaft, besuchten wir das Archiv der Bioengineering AG in Wald ZH. Pio Meyer, der Gründer der Bioengineering AG, hat über die Jahrzehnte seiner Tätigkeit in den Gebäuden der ehemaligen Textilfabrik Oberholzer zahlreiche Schriften über die Fabrik und die Gemeinde Wald ZH gesammelt. So auch über Robert Grimm. Denn Grimms Eltern hatten in der Fabrik Oberholzer gearbeitet und das Haus, in dem die Familie Grimm wohnte, stand und steht ebenfalls auf diesem Areal.

Raffael Tondeur, der damalige Archivar, präsentierte uns diese Dokumente, darunter eine Kopie der Reiseerinnerungen von Robert Grimm. Wir waren fasziniert von diesem Tagebuch und liessen die kopierten Seiten zu einem grossen Teil transkribieren. Für die Ausstellung wurden dann Ausschnitte der Reiseerinnerungen zusammen mit der Route und Bildern der Ortschaften, die Robert Grimm im Frühsommer 1902 passierte, digital aufbereitet.

Wenn auch andere Themen wie der Streik 1912 in Zürich oder die Friedenskonferenzen von Zimmerwald und Kienthal oder der Schweizerische Landesstreik unsere Aufmerksamkeit über die letzten Jahre hinweg stärker beansprucht haben, begleiteten Grimms Reiseerinnerungen seither die Arbeiten der Robert-Grimm-Gesellschaft. Der Wunsch, dieses Tagebuch zu edieren, liess uns nicht mehr los.

Im Jahr 2016 führten wir im Vorstand erste Gespräche über eine mögliche Edition. Schon bald war auch die Idee einer Wanderroute geboren. 2017 kam Fritz Brönnimann hinzu und von da an ging es Schlag auf Schlag. Erste Gespräche wurden geführt mit Schweiz Mobil und Via Storia. Die unterstützende Beratung gab weiteren Schwung, so dass wir die erste Etappe im Sommer 2019 unter die Füsse nehmen konnten.

Die Wandergruppe 2019

 

Wir starteten an Grimms Ziel, der Gemeinde Wald ZH, und wander-ten in 13 Tagen über Bilten und Glarus, Flums und Bad Ragaz nach Chur, weiter nach Lenzerheide, Filisur und Preda, dann über den Albulapass nach La Punt, Zernez und über den Ofenpass nach Mustair. Den Albulapass? Ja, den Albulapass. Irgendwie war uns bei der Planung dieser Route das Wissen darüber abhanden gekommen, dass Grimm ja über den Julierpass gekommen war. Dies führte über mehrere Tage zu wunderbaren Diskussionen unter den an der Reise beteiligten Historikerinnen Marga Voigt und Rebekka Wyler und den Historikern Bernard Degen und Andreas Berz über mögliche Wander-routen, Postautos und den Bau der Rhätischen Bahn. Letztlich aber nahmen wir die Reiseerinnerung zur Hand, und dann war es klar: Grimm hatte die Julierstrasse gewählt.

Im Sommer 2020 führte die zweite politische Wanderung von Graz via Triest nach Gorizia. Auch im Sommer 2021 werden wir wieder auf Grimms Spuren unterwegs sein, und zwar von Gorizia aus in das von Robert Grimm gerühmte Pustertal. Interessierte Mitwandernde sind jederzeit herzlich eingeladen.

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Editorische Vorbemerkungen
(Andreas Berz)

Die vorliegenden «Reiseerinnerungen» dokumentieren Robert Grimms Wanderung von Graz via Gorizia zurück nach Wald im Zürcher Ober-land. Auf dieser Walz führte Robert Grimm, wie er auf Seite 15 schreibt, Tagebuch. Hauptsächlich aus Gründen des akuten Geld-mangels unterbrach Grimm seine Reise für einen Monat (vom 16. Mai bis 15. Juni 1902), um in der Tipografia Spiridione Skert in Gorizia als Maschinenmeister zu «konditionieren», das heisst Lohn-arbeit zu verrichten (vgl. S. 42f.). Aus dieser kurzen Zeit der Sess-haftigkeit stammen bloss zwei Einträge: jener vom 20. Mai, in welchem er den ersten Teil seiner Reise bis Gorizia zu Ende erzählt, und jener vom 1. Juni, in welchem er den Text von zwei italieni-schen Liedern wiedergibt, die er in Gorizia kennen gelernt hatte.

Das Original der «Reiseerinnerungen» befindet sich im Schweizeri-schen Bundesarchiv (CH-BAR J1.173#1986/188#26). Das Büchlein in handlichem Format ist in erstaunlich gutem Zustand angesichts der langen und strapaziösen Wanderungen durch Regen und Schnee, die das Dokument mit seinem Besitzer durchgemacht hat.

Den harten Umschlag in dunkelgrüner Farbe ziert eine Ansicht von Graz mit seinem Schlossberg. (Vermutlich hat Grimm das kleine Buch in Graz erworben.) Auf das Vorsatzblatt folgt eine farbig illustrierte Seite mit Blumenmotiven und einer Szenerie von Segelbooten auf einem See im Mondschein. Es folgen drei weitere unpaginierte Seiten, darunter die Titelseite, und danach 117 handschriftlich nummerierte Seiten, wobei die Seiten 114 bis 117 fälschlicherweise ein zweites Mal mit den Seitenzahlen 104 bis 107 versehen sind. Am Ende des Buches sind zehn weitere Seiten leer geblieben.

Diese unbeschriebenen Seiten geben einige Rätsel auf, da Grimms Text unten auf Seite 117 mitten im Satz abbricht. Der letzte Eintrag, jener vom 30. Juni 1902, berichtet davon, dass Grimm im Dorf Schluderns nahe der Schweizer Grenz ein Nachtlager gefunden habe. Von der weiteren Wanderung durch die Kantone Graubünden, St. Gallen und Glarus zurück nach Wald enthält das Büchlein keine Notizen. Ein Grund, weshalb die letzten Seiten leer geblieben sind, ist weder den «Reiseerinnerungen» selbst noch anderen Quellen zu entnehmen.

Die Titelseite der «Reiseerinnerungen» hat Robert Robert Grimm mit «Porrentruy, den 10. Sept. 1902» versehen, nachdem er dort am 1. September eine Stelle bei der Druckerei «Le Jura» angetreten hatte, um seine Kenntnisse der französischen Sprache in der Praxis zu verbessern.

Das Manuskript ist an einigen Stellen mit Bleistift korrigiert worden. Diese Korrekturen dürften von Grimm selbst stammen, da sich die Schrift nicht unterscheidet. Wann er diese Berichtigungen ange-bracht hat, lässt sich nicht feststellen.

Die «Reiseerinnerungen» sind zum grössten Teil in deutscher Kurrentschrift gehalten. Für Personen- und Ortsnamen sowie Überschriften hat Grimm dagegen, wie damals üblich, die lateinische Schreibschrift verwendet. Er beherrschte also beide Schriften.

Das Bundesarchiv hat das Original der «Reiseerinnerungen» gescannt – leider unter Weglassung der zehn unbeschriebenen Seiten am Schluss – und als PDF-Datei zur Verfügung gestellt. Die vorliegende Edition gibt die beschriebenen Originalseiten im Bild wieder und stellt ihnen die Transkription gegenüber. Hinzu kommen Erläuterungen, vorwiegend zu Personen- und Ortsnamen, sowie ein Glossar der besonderen Ausdrücke, die bei deutschsprachigen Wandergesellen und Buchdruckern damals in Gebrauch waren.

Robert Grimm hat seine Gesellenwanderung von Graz via Gorizia nach Wald auch auf Seite 5 seiner «ERINNERUNGEN» erwähnt. Er hat dieses stichwortartige Typoskript ums Jahr 1956 verfasst im Hinblick auf seine Memoiren, die er allerdings nicht mehr niederschreiben konnte. Die betreffende Passage umfasst die folgenden 10 Zeilen:

1902    Im Frühjahr erneut auf Wanderschaft. Ziel- und plan-

los. Adelsberg, Krain, Triest, Görz zur Aushilfe.
4 Wochen. Bude mit Handbetrieb. Soz. Tageszeitung.
500 Auflage. Ersatzmann: Form unter der Maschine.
Drei Tagelang keine Zeitung, weil keine Lettern als
Reserve.
Dann heimwärts über Udine, Krain, Kärnten, Tirol,
Engadin, Moritz, Thusis, Chur, Glarus, nach Wald
Einzelheiten: Verlauf der Wanderschaft, Klöster etc.
Zusammenprall Thusis mit Polizisten, usw.

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Reiseerinnerungen

Reiseerinnerungen

–––––

Dati[e]rend vom 4. Mai 1902
bis zum 7. Juli 1902.

–––––

Porrentruy, den 10. Sept[ember] 1902

Rob[ert] Grimm
typ[ograph]

Graz – Laibach – Trieste

Gorizia

–––––

Kilometer .... 425

Tage .... 12

I. Theil

Graz, Steiermark, 4. Mai 1902.
Abschiedsvalet.

Anwesend: Florian Drössler und Frau,
          Fräulein Dennuel, Schriftstellerin,
          Joseph Gratnischigg, Lithograph,
          Josef Herzog und Frau
          Matthäus Heidenberger, Lithograph
          Dr. M. Schacherl und Frau
          C. Schuh und Frau, Lithograph
          J. Sedlmeier, Lithograph

----

Wenn auch die Witterung
nicht dazu angetan war,
[mit Bleistift durchgestrichen: um] eine Lagerpartie zu
machen, ließen es sich meine
l[ieben] Grazer Freunde und Freundinnen
doch nicht nehmen, nochmals
zu dem Orte zu pilgern, wo
wir so manche gemütliche
Stunden im trauten Kreise
verlebten, nach dem Orte,
der an Erinnerungen von
mannigfacher Art so reich ist.

So brach denn die Kara-
wanne [sic] morgens 7 Uhr auf,
unbekümmert um den
Regen, der schon tropfenweise
zur Erde fiel. Bis Wetzelsdorf

-1-

wurde die Tramway benützt und
von da gings zu Fuß auf den
bekannten Wegen übers
Hardenschlösschen nach dem
Steinberg.

Die ganze Gesellschaft war
bis Abends in animi[e]rtester
Stimmung und nur allzu rasch
mahnte die vorgeschrittene
Zeit zum Aufbruch.

Die Heimkehr war nicht
angenehmer als morgens
der Hinmarsch, denn nach-
dem es den ganzen Tag
regnete, waren die Straßen
aufgeweicht, was das Gehen
bedeutend erschwerte, immer-
hin ohne der Gemütlichkeit,
die bis zum Auseinandergehen
vorhanden war, Einhalt zu
thun.

Ein Souper im Restaurant
„International‟ beschloß so
dann den Tag, der mir
unvergeßlich bleiben wird.

-2-

Ich möchte nur wünschen,
wenn es je das Geschick fügen
sollte, daß ich wieder einmal
nach der freundlichen Murstadt

pilgere, sei es nun auf
Besuch oder für längere Zeit,
ich die Genoßen und Genoßinnen
in derselben Eintracht vor-
finden werde, wie ich sie
am heutigen Tage verlaßen
habe.

Graz, den 5. Mai 1902.

Der heutige Tag war bestimmt,
meine Siebensachen zu packen
und zu expedieren, sowie die nötigen
Sachen für die Reise zu besorgen,
soweit dies noch nicht geschehen.
Der Tag war dann auch dazu
angetan, denn es regnete
in [mit Bleistift durchgestrichen: einer] Tour [und ergänzt: unaufhörlich].

Abends war noch ein
Rende-vous bei Gen[osse] Herzog. Zu
dieser letzten Zusammenkunft
fanden sich ein:

Leopold Benisch,

Florian Drössler und Frau,

Josef Herzog und Frau,

Matthäus Hardenberger und

Familie Walcher.

-3-

Bis Mitternacht wurde ge-
plaudert und nach allgemeiner
Verabschiedung suchte jeder seinen
heimischen Herd auf.

In der deutschen Vereinsdruckerei
machten H[er]r Drössler und Frau,
Leo[pold] Benisch und ich noch einen
Besuch, der dem Coll[egen] Schieche
galt, um auch bei dieser Ge-
legenheit, die Rotationsmaschine
in Betrieb zu sehen.

Um 1 Uhr legte ich mich
zu Bette, das letzte Mal, wer
weiß für wie lange Zeit in
Graz.

Graz, den 6. Mai 1902.

Heute heiterte sich der Himmel
wieder auf, so daß sich
auch mein Mut, der
schon um ein ziemliches
gesunken war, wieder
hob und der Abschied von der
steierischen Landeshaupt-
stadt, deren Mauern
mich nahezu 1 Jahr beher-
bergt hatten, bedeutend
leichter wurde.

-4-

Vor meiner Abreise wollte
ich meinen Landsleuten noch
ein letztes Lebewohl sagen und
machte mich daher schon zeitig
auf die Suche nach denselben.

Trotz längerem Herum-
rennen konnte ich dieselben
nirgends finden und mußte,
da die Zeit zur Abfahrt
nicht mehr ferne war,
unverrichteter Dinge ab-
ziehen.

Nun, nachdem ich
meiner Pensionsfrau
Adieu gesagt hatte, gings
dem Bahnhof zu, in Begleit-
ung von Frau Drössler und
Coll[ege] Benisch.

Angesichts der nahen
Abschiedsstunde wollte
eine Unterhaltung nicht
mehr in den Fluß kommen.

Ich war eigentlich froh,
als es hieß einsteigen,
denn wer weiß, hätte ich
nicht bald das Hasen-
panier ergriffen und alle

-5-

meine Reispläne über
den Haufen geworfen.

Das Dampfroß fuhr
mich durch eine anmutige
Gegend, teilweise der
Mur entlang, und um ½ 1 Uhr
langte ich am Ziele meiner
Fahrt, Marburg a[n] d[er] Drau [slowenisch: Maribor], an.

Indeßen hatte die Witterung
umgeschlagen und wie die vor-
hergehenden Tage rieselte aufs
Neue das himmlische Naß her-
nieder.

Zunächst wurde nun der
Reisekasseverwalter aufgesucht,
um mein Viatikum in
Empfang zu nehmen.

Im Gasthof zum „Landwirt”
wurde getafelt.

Den Nachmittag brachte ich
mit der Besichtigung der
Stadt herum, konnte aber be-
sondere Sehenswürdigkeiten
keine bemerken.

Das Nachtlager schlug ich
im obenbenannten Gasthof
auf.

-6-

Marburg a[n] d[er] Drau, den 7. Mai 1902.

Bei angenehmer Witter-
ung marschi[e]rte ich heute über
Kötsch [slowenisch: Hoče] nach Windisch-Feistri[t]z [slowenisch: Slovenska Bistrica].

In ersterer Ortschaft hielt
ich Mittagrast, die aber ein
wenig schwierig ausfiel, da etwas
Warmes nicht zu kriegen war.

Nun hieß es eben „Hunger
ist der beste Koch‟ und schmeckten
schließlich auch ein paar sog[enannte]
Krainerwürste mit Brot und saurem
Most.

Schon außerhalb Marburg
hört man nicht mehr viel
deutsch sprechen und je mehr man
dem Süden zu kommt, ver-
schwindet die deutsche Sprache
bereits ganz und an deren Stelle
tritt das Windische [= Slowenische], ein
Mischmasch von Deutsch, Italienisch
und Kroatisch.

Die kleine Stadt war bald
besichtigt und nun gings zum
Gemeindesekretär, um die
Verpflegung zu holen.

Derselbe schien heute dem
Herrgott den Essig ausgesoffen
zu haben, denn sein Benehmen
war nicht gerade ein ver-

-7-

trauenerweckendes. Aus seinen
groben Ausführungen konnte
ich nicht klug werden; wußte
daher auch nicht, ob mir die
Verpflegung zugesprochen sei
oder nicht. Immerhin suchte
ich die Verpflegungsstation auf und
wartete dort der Dinge, die
da kommen sollten.

Um ½ 7 Uhr war gemein-
samer Abmarsch aller Kunden
zum Gasthaus, wo das Nacht-
mahl eingenommen
wurde.

Wir bemerkten gleich
beim Eintreten, daß hier
etwas faul sei im Staate
Dänemark, denn obwohl
unser 8 „dufte Brüder”
beisammen waren, er-
blickten wir nur 6 Gedecke
(wenn man den Gamel[l]en
so sagen darf).

Zunächst wurde mit
der Wirthin „aufgedraht‟, wie
wir dazu kommen, mit
6 Rationen 8 sowieso hungrige

-8-

Kundenmagen zu befriedigen.

War nun derselben die
Art, in der wir verkehrten,
nicht recht, oder hatte sie
sonst den Rappel, kurz und gut,
auf einmal stand der
Gemeindewachmann, in
der Kundensprache gewöhnlich
„Putz” benamst, in höchst eig-
ener Persönlichkeit vor uns und
brüllte uns an, wie wenn
wir wer weiß was verbrochen hätten.

Die Quintessenz seiner
Ausführungen ging dahin,
daß mir und einem Aqiesen- [= Akquisen-]
Drechsler die Verpflegung ent-
zogen sei.

Meine Persönlichkeit, die
überhaupt nicht dazu veran-
lagt ist, wenn ihr Unrecht
geschieht, zu kuschen und wenn auch
ein Jünger der heil[igen] Hermandad
die Sprache führt, nahm die
Geschichte nicht so ruhig hin und
machte ihr Recht auch vor
diesem windischen Polizisten-

-9-

beutel geltend. Trotz wieder-
holter Androhung der Arretier-
ung ließ ich mich nicht ab-
speisen.

Da aber keiner von
uns nachgeben wollte, der
Dorfpolizist Vernunftsgründen
absolut unzugänglich war,
nahm ich schließlich meine
Papiere, um meine Re-
klamation an dem Orte
anzubringen, wo ich eher
hoffte, Recht zu finden, näm-
lich beim Bürgermeister-
amt.

Ich suchte nun den Bürger-
meister auf, worauf ich
demselben klar machte, daß
auch Handwerksburschen
ein Recht auf Anständig-
keit besitzen und man mit
denselben ebensogut
umgehen muß, wenn
auch ihr Äußeres nicht
so fein ist.

Das Gemeindeoberhaupt

-10-

von Windisch-Feistri[t]z war dann
so liebenswürdig, mich zu
dem Gemeindeschreiber zu
begleiten. In meiner
Gegenwart erteilte er
demselben wie dem Putz
einen Rüffel und was die
Hauptsache war, ich erhielt
meine Verpflegung.

Hoffentlich dürfte dieser
Fall genügen, um den
jugendlichen, allzu pflicht-
eifrigen Polizisten von
Windisch-Feistri[t]z zu belehren,
daß Kunden ebensogut
als Menschen behandelt
sein wollen wie übrige
Leute.

Windisch-Feistri[t]z, 8. Mai 1902 (Auffahrt)

Durch eine hübsche Gegend
führte mich heute der Weg.
Die Straße nach Cilli [slowenisch: Celje] über
Gonobitz [slowenisch: Slovenske Konjice] Ho[c]henegg liegt
in einer Thalso[h]le und manier-
lich reizend ist die Gegend
von Gonobitz bis Cilli.
Links und rechts sind die Abhänge
mit dichten Tannenwäldern

-11-

bewachsen und erst kurz vor
Cilli erweitert sich das
Thal.

Nach 8-stündigem
Marsche erreichte ich Cilli,
die letzte an dieser Route
gelegene deutschsprachige
Stadt.

Ich begab mich sofort
in unser Parteilokal zum
Hirschen, allwo ich hoffte,
Näheres über meinen
einstigen Reisekollegen
Jandas, nunmehr 1 Jahr
in Cilli konditionierend,
zu erfahren.

Zu meinem Bedauern
konnte ich nur in Erfahr-
ung bringen, daß derselbe
der deutschvölkischen Partei
angehöre, somit natürlich
nicht hier zu suchen sei.

Einige Cillier Genoßen
hatten dann die Freundlich-
keit, mich zu einem Spazier-

-12-

gang einzuladen, zu dem
ich selbstredend mit Freuden
zusagte.

Das Ziel war der hübsch-
gelegene Schlossberg. Die
Stunden, die ich dort oben
auf luftiger Höh im Verein
mit Gleichgesinnten verlebte,
werden mir in steter Erinner-
ung bleiben.

Abends gelang es mir
endlich, Coll[ege] Jandas aufzu-
treiben. Es folgte
[mit Bleistift durchgestrichen: nun]
eine großartige Begrüß-
ung von Seiten desselben.
Bis Abends [sic] 11 Uhr wurde
geplauscht und gequatscht, bis
uns schließlich der Schlaf über-
mannte und wir uns gegen-
seitig, in der Hoffnung
auf ein fröhliches Wiedersehen
am morgigen Tage,
trennten.

-13-

Cilli, 9. Mai 1902.

Das sonst übliche Maiwetter
scheint auch hier in der Unter-
steiermark keinen Einzug
halten zu wollen.

Wenn ich auch heute mor-
gen fieberhaft nach einem
Anzeichen zur Beßerung des
Wetters suchte, konnte ich doch
nichts entdecken, was mein
Gemüth froher gestimmt
hätte.

Ungeachtet des zweifel-
haften Gesichts [mit Bleistift durchgestrichen: von] Petrus’
schickte ich mich an, einen
Spaziergang im Stadtpark
und in der Umgebung Cillis
zu machen, wurde aber
durch eintretenden Regen
gezwungen, nach kaum
3-stündiger Wanderung
umzukehren.

Obige Notizen trug ich
um 4 Uhr Nachmittag in

-14-

mein Tagebuch ein, während
der Regen unaufhörlich nieder-
praßelte. Wenn jemand nicht
weiß was Langeweile ist,
so wäre es ein guter Versuch,
die Zeit so zu verbringen,
wie ich es hier in Cilli zu
thun genötigt war.

Etwas nach 7 Uhr rückte
der Banquier an, der mir
die 3 Reisetage von Marburg
bis Cilli ausbezahlte. Nach
einer Weile stellte sich dann
ebenfalls Jandas ein, so
daß doch mindestens ein
Terzett beisammen war,
um den Abend umzu-
bringen.

Bis ½ 12 Uhr „quatschten‟
wir und begaben uns dann
in unsere 4 Pfühle.

Cilli, 10. Mai 1902.

Der heutige Tag machte
wiederum keine Miene zur
Beßerung des Wetters. Der

- 15 -

gleich trübe Himmel wie
die letzten Tage.

So lange die Witterung
es erlaubte, spazierte ich auf
der Laibacherstrasse, wobei
mir ein Gendarm unter-
kam, der natürlich seines
Amtes waltete, d. h. in der
Kundensprache „fleppen”.

Nun nachdem er nichts
staatsgefährliches an mir
entdeckte, zog er wieder seines
Weges.

Diesen Nachmittag
ging es mir ebenso wie
gestern. Durch das andau-
ernde Regenwetter wurde
ich genötigt, den ganzen
Nachmittag im Wirts-
haus zu verbringen, was
jedoch für meinen
Geldbeutel nicht gerade
von Vortheil war.

Abends gaben mir
im Gasthof z[um] Strauss einige
von den Cillier Kollegen,
sowie Genoße Schanzer und Frau
ein Rendez-vous.

-16-

Da eine Unterhaltung
nicht in Fluß kommen
wollte, ging das Gespräch
aufs Politische über. Während
dessen Verlauf gab es man-
chen Anstoß mit den Cillier
Kollegen, [mit Bleistift gestrichen: denn und ersetzt durch: wobei] ihre alldeut-
schen, teutonischen Gesinnung-
en [mit Bleistift ans Satzende umgestellt: erhielten] ziemliche Löcher [erhielten].

Nachdem der politische
Teil abgewickelt war, be-
gann das Gemütliche und
ungeachtet der vorherge-
gangenen Heftigkeit
[mit Bleistift ergänzt: des Gespräches], saßen wir bei Gesang und
Deklamationen bis ½ 1 Uhr
beieinander, d. h. bis
wir rausgeschmißen
wurden.

Cilli, 11. Mai 1902.

Heute sollte nun endlich
der Abreisetag sein.

Schon in aller Frühe begab
ich mich in den „Hirschen‟, allwo
mir Jandas ein Rendez-vous
geben wollte.

Allein er schien seinen

-17-

„Patzen” noch nicht ausgeschlafen
zu haben, indem ich vergebens
bis Mittags seiner Ankunft
harrte.

So zog ich denn ohne
den formellen Abschied weiter.
Ich befand mich jedoch kaum

5 Minuten unterwegs, als
ich hinter mir ein jämmer-
liches Geschnaufe hörte, das [sic]
wie ich richtig vermutete, nur
von einer Buchdruckerseele
herstammen konnte. Und
so wars denn auch. Jandas
erreichte mich [mit Bleistift durchgestrichen: gerade und ersetzt durch: just] noch
zur rechten Zeit.

Wir tippelten hierauf
miteinander bis zum nächst-
en Gasthaus, wo mir Jandas
noch einen letzten Abschieds-
trunk offeri[e]rte.

Doch erst jetzt, wo es
scheiden hieß, hatten wir
uns noch eine Menge
zu erzählen, so daß wir

-18-

um zwei Uhr noch festklebten.
Da die Zeit schon so weit vor-
gerückt war, entschloß ich
mich, den heutigen Tag
ebenfalls noch in Cilli zu
verbringen und morgen dann
mit Volldampf weiter zu
machen.

Der Wirt, ein ehemal-
iger Metallarbeiter der offen-
bar auch wußte, was Hand-
werksburschenlos heißt, unter-
stützte mein Vorhaben durch
Verabreichung einer kräftigen
Hühnersuppe und [mit Bleistift durchgestrichen: zudem] bot er
mir [mit Bleistift ergänzt: außerdem] ein gratis Nachtlager an.

Selbstredend accepti[e]rte
ich dies mit Vergnügen,
zumal mein Portemonnaie
ohnehin die Schwindsucht hatte.

Um aber nicht den
ganzen Tag zu versumpfen,
kehrten wir in die Stadt
zurück und hatten dortselbst
Gelegenheit, den Football-
Match zwischen dem Cillier

-19-

[und dem] Laibacher Verein mitan-
zusehen. Sieger blieb Cilli
mit 3:0 Goals.

Nachher wurden noch
einige auf den Zahn
genommen und um ½ 10 Uhr
verabschiedeten wir uns
endgültig.

Hierauf bezog ich
mein Gratisquartier, das
nebenbei bemerkt vorzüglich
war.

Cilli, 12. Mai 1902.

Bevor ich die Weiterreise
antrat, wartete mir die
Wirthin mit einem Wein-
thee auf.

Für die Gutherzigkeit den
beiden jungen Eheleuten
dankend, nahm ich Abschied
von denselben und zog nun
nach 4-tägigem Aufent-
halt in Cilli weiter, mit
einem ziemlich geschwächten
Geldbeutel, doch immerhin
frohen Mutes.

Ob mich bürgerliche,
ganz unbekannte Leute

-20-

auch so ohne Weiteres beherbergt
hätten, wie dieses Ehepaar?
Ich zweifle daran. Übrigens
ein Gegenstück zu Windisch-
Feistritz am 8. Mai.

Ausserhalb Cillis traf
ich mit einigen Kunden
zusammen, die ebenfalls
nach Laibach [slowenisch: Ljubljana, italienisch: Lubiana] marschi[e]rten.
Die nächste Verpflegsstation
St. Paul [slowenisch: Sveti Pavel pri Preboldu] war aber nur 2
Stunden von Cilli entfernt,
so daß uns noch Zeit ge-
nug blieb, um einige
Stunden zu rasten.

An einem schattigen
Plätzchen „hauten‟ wir uns
hin und nur allzu bald war
die Mittagszeit herange-
rückt.

Wer schon je einmal
auf der Landstraße war,
resp[ektive] dufter Bruder gewesen
ist, wird wissen, wie schnell
die Zeit vergeht, wenn eine
Anzahl Kunden beisammen
sind.

-20- [i. e. -21-]

Bis ich die Verpflegung erhielt,
hatte ich wieder meine liebe
Not, denn auch dieser Stations-
leiter konnte nicht verstehen,
daß ein Schweizerbürger
eine Reisebewilligung nicht
notwendig hat.

Endlich nach längerer
Wechselrede erhielt ich die
Anweisung auf das
Mittagsmahl.

Die Mühe, die mich
dies gekostet, hätte ich mir
aber erspart, wenn ich
eine Idee gehabt hätte
von dem Essen, das
hier dargeboten wird.

Ich konnte diesen
Brei, bestehend aus Rukweiz- [= Ruchweiz-]
mehl und Speckschnitten
um keinen Preis ver-
tilgen und ich begnügte
mich mit einem Stück
„Hanf‟, das aber auch
nicht viel wert war.

-22-

Im Verlaufe des Nachmittags
[durchgestrichen: des Nachmitags] trennte ich
mich von den anderen
Kunden, da dieselben Abends
die letzte an dieser Route
gelegene Verpflegsstation
mitnehmen wollten, ich
aber forciert war, weiter
zu marschieren, um mor-
gens die krainische Landes-
Hauptstadt zu erreichen.

In dem Dorfe Kraxen [slowenisch: Krašnja]
fand ich [durchgestrichen: die] Unterkunft
in einem Gasthaus.

Für ein nicht besonders
gutes Nachtlager mußte
ich 60 Heller zahlen..

Kraxen, den 13. Mai 1902.

In der Frühe mit den
ersten Sonnenstrahlen
machte ich mich auf den
Weg, um womöglich bis Mittags
in Laibach einzu-
treffen.

-23-

Mit Zuhilfenahme der Bahn,
der ich die letzten 26 Heller zahlte,
kam ich um 11 Uhr in
Ljubljano [sic] an.

Der erste Gang war
zum Reisekasseverwalter,
woselbst ich die Unter-
stützung im Betrage von
4 K[ronen] 80 H[eller] behob.

Auf der Penne „zum bayr[ischen]
Hof” wurde dini[e]rt.

Den Nachmittag brachte
ich mit Besichtigung der
Stadt herum.

Laibach, den 14. Mai 1902

In der Erwägung, daß
es besser sei, mit etwas
Geld in der Tasche das
Windische zu passieren,
machte ich von der Begünstig-
ung des oesterreichischen
Verbandes (es ist in Laibach
ein Aufenthaltstag ge-
stattet), keinen Gebrauch.

-24-

Mit 1 Krone in der Tasche
machte ich weiter.

Das Morgenessen bestand
aus einem Keil Hanf,
den ich unterwegs verzehrte.

Etwas außerhalb der
Stadt hielt ich bei einem
windischen Bauer, der just
mit seinem Gefährt zu
Markt fuhr, an und konnte
mit demselben bis Ober-
Laibach [slowenisch: Vrhnika] fahren, eine
Stunde von 23 km.

Von da gings nun
bald bergan und bergab durch
ein ödes Hügelland.

Ich mochte etwa 2
Stunden unterwegs sein,
als sich ein heftiges Ge-
witter über die Gegend
entleerte, so daß an
ein längeres Marschieren
nicht zu denken war.
Glücklicherweise erreichte

-25-

ich bald das Dorf Loitsch [slowenisch: Logatec, italienisch: Longatico].
In einem Gasthaus ver-
tilgte ich einen Krug
abgestandenes Bier mit
etwas Hanf.

Ich mußte aber trotz
dem strömenden Regen
[mit Bleistift durchgestrichen: an ein Weitergehen und ersetzt durch: ans Vorwärtskommen]
denken, denn mein
Geldbeutel erlaubte
[durchgestrichen: es] mir [durchgestrichen: unter keinen Umständen hier und ersetzt durch: nicht] in diesem
Kaff zu warten bis beßere
Witterung eintreten
würde.

Da ich es für unver-
einbar fand, im Besitze
von nahezu 1 Krone zu sein und
bei solchem Hundewetter
weiterzumarschi[e]ren, benutzte
ich die Südbahn bis zur
Haltstelle Rakek.

Durch diese neue
unvorhergesehene Aus-

-26-

gabe war mein ganzer
Barbestand auf 45 Heller
zusammengeschmolzen und mit
diesen sollte ich noch 1 ½ Tage
mein Auskommen finden.

Indessen hatte der Regen
ein bi[s]schen nachgelassen,
so daß ich den Weg wieder
zu Fuß fortsetzen konnte.

Nach ca. 4-stündigen [sic]
Marsche erreichte ich das durch
seine Grotten weltberühmte
Adelsberg [slowenisch: Postonja, italienisch: Postumia].

In der Druckerei (Wind-
isch [= slowenisch:] Tiskarna) Šeber wurden
mir 45 Heller verabfolgt, die
ich mit Freuden einsteckte.

Gerne hätte ich mir
die Grotten von Adelsberg [= Höhlen von Postojna]
angesehen, allein der
hohe Eintrittspreis (3 Kr[onen])
war mir unerschwinglich.

Ich konnte mich, ob-
schon es schon 6 ½ war, nicht
entschließen, in Adelsberg zu

-27-

zu [sic] nächtigen, denn die
hohen Fremdenpreise hielten
mich davon ab.

Trotzdem meine
Glieder ganz steif waren
vor Näße und Kälte, nahm
ich den Weg abermals
unter die Füße.

Um ½ 8 Uhr Abends
erreichte ich ein kleines
Kaff, woselbst ich hoffte mit
dem Rest meines Geldes
Unterkunft zu finden. In
dem einzigen Wirtshaus,
das in dem Dorfe zu
finden ist, kehrte ich ein.
Diese windischen Kaffern
scheinen aber überall
die gleichen zu sein.

Man wollte mich
um keinen Preis behalten
bis morgens und erst als
ich erklärte, bei dem

-28-

Hundewetter auf keinen
Fall weiterzugehen, [mit Bleistift durchgestrichen: ließ]
besann sich der Gastwirt dazu [mit Bleistift durchgestrichen: ver-
stehen], mich im Stalle
übernachten zu lassen;
von einem Bett war
aber keine Rede, obschon
noch eines frei gewesen
wäre.

Ich würde wohl den
Bürgermeister aufge-
sucht haben, wenn ich
durch die Strapazen des
heutigen Tages nicht
so ermattet gewesen
wäre und froh war, mein
müdes Haupt irgend-
wo hinlegen zu können.

Ohne ein Nachtmahl
suchte ich meine Lager-
stätte auf, die aus
feuchtem Laub bestand.

An ein Ausziehen der
Kleider war unter
diesen Umständen nicht

-29-

zu denken. Wohl oder
übel mußte ich mich [in]
den nassen, triefenden
Kleidern niederlegen.
Vor Müde und Mattigkeit
schlummerte ich bald
ein, erwachte aber schon
nach kurzer Zeit wieder,
durch die Kälte und durch
den Wind, der um meine
Ohren pfiff.

Wie beneidete ich
doch die Kühe, die in
ihrer Nachtruhe lagen!
Jede Stunde schien mir
eine Ewigkeit zu sein.
Ich glaube, wenn ich
die nächste Nacht auch
so zubringen muß
wie diese, kann ich nach-
her [den mit Bleistift korrigiert zu: das] Spital aufsuchen,
denn auf die Dauer
wäre mein Körper solchen

-30-

Strapazen nicht gewachsen.

Wenn ich meine Papiere
dem Wirt nicht zur
Aufbewahrung übergeben
hätte, würde ich mich
auf die Füße gemacht
haben, um so schnell wie
möglich aus dieser
„unheilvollen‟ Gegend,
wenn auch bei Nacht,
zu verschwinden.

15. Mai 1902.

Um 5 Uhr machte ich
mich wieder auf den
Weg und zwar wurde tapfer
ausgeholt, wozu mich das
griesgrämige Gesicht des
Himmels bewog.

Da schon nach kurzer
Zeit fing es zu regnen
an in Strömen.

Dennoch wurde weiter
getippelt durch das
krainische Hügelland.

Doch nicht genug, daß
[mit Bleistift ergänzt: bleiern der Schlaf.]

-31-

das Nass fortwährend
niederfiel, [durchgestrichen: den] bald
verwandelte sich der
Regen in Schnee.

Bis 8 Uhr widerstand
ich dem knurrenden
Magen, da machte er
aber seine Rechte stür-
misch geltend. In der

Voraussicht des langen
Marsches, den ich noch vor
mir hatte, Triest mußte
auf alle Fälle noch er-
reicht werden bis Abends,
machte ich Halt in
einem einsamen
Waldwirtshaus, kurz vor
der Wegabzweigung
nach Goerz [= Görz, slowenisch: Goricia, italienisch: Gorizia,
furlanisch: Gurize], und für die
letzten 12 Kreuzer kaufte
ich mir eine Schale
Kaffee und etwas Brot.
Ich hätte wohl das fünf-
fache vertilgt, wenn

-32-

mir Mittel zur Ver-
fügung gestanden
wären und fechten mochte
und konnte ich nicht, denn
davor hielt mich mein
Stolz ab.

So hutschte [sic] ich nach
kurzem Aufenthalt wieder
davon. Mein leeres
Portemonnaie gab
mir Mut und Kraft, weiter
zu marschieren, und bis
gegen Mittag hielt
ich es trotz Regen, Schnee
und Wind und einer elenden
Straße aus.

Endlich aber konnte
ich mit dem besten
Willen nicht mehr
weiter.

Lange überlegte
ich, was zu thun sei,
schließlich aber siegte

-33-

der Hunger und die Rück-
sicht auf die Gesund-
heit, und was ich vor einigen
Stunden nicht fertig-
gebracht hätte, ging
jetzt – das Fechten.

Ich begann mit
dem Pfarrhaus und da
mir dort ohne weiteres
2 Kreuzer verabfolgt
wurden, setzte ich
dieses „Metier‟ solange
fort, bis es zu einem
Schluck Wein und Brot
langte.

Es war aber auch die
höchste Zeit, daß ich mich unter
Dache machte.

Meine Kleider trieften
buchstäblich. Ich war bis auf
die Haut durchnäßt, es
genügten, wenn ich mich
an einen Ort hinstellte

-34

1 – 2 Minuten, um den
trockenen Boden in einen
förmlichen See zu verwan
deln.

Nun nachdem ich
mich am lustigen, offenen
Herdfeuer eines Gasthauses
gewärmt und meine
Schulden mit den zu-
sammengefochtenen
Kreuzern gezahlt hatte,
zog ich meines Weges.

Man spürte jetzt schon,
dass der Süden resp[ektive]
das Meer beginnt.
Die Straße stieg sanft
bergab und einmal
in dem Kronland
Istrien angekommen,
hörte es zu schneien auf,
immerhin regnete es
noch tüchtig fort und auch
der Wind [blies mit Bleistift korrigiert zu: pfiff] noch kräftig [mit Bleistift ergänzt: um die Ohren].

-35-

Kurz vor 2 Uhr sagte
man mir, daß nach
Erklimmung des vor
mir liegenden Hügels
noch ca. ¾ Stunden
Weges seien bis Triest.
Allmälig, je näher ich
meinem Ziele kam,
hörte [der] Regen auf und
just als wollte mich
Freund Petrus für die
ausgestandenen Stra-
pazen entschädigen,
verjagte Frau Sonne
die ihr Gesicht verschlei-
ernden Wolken und wirklich:
eine schönere Belohnung
hätte mir nicht leicht
zu teil werden können
als mit dieser Wetter-
änderung. Hinter
mir der schwarze Him-
mel, das ohnedies

-36-

unfreundliche krainische und
istrische Hügelland
bedeckend, vor mir am
Abhange des Hügels und
an dessen Füßen gelegen,
Triest von herrlichem
Sonnenschein überflutet.
Das Meer erglänzte
in tiefem Blau und
majestätisch grüßten
die Schiffsmaste zu mir
herauf.

All die ausgestandenen
Mühen vergessend, jauchzte
mein Herz bei diesem
herrlichen Anblick.

Um mein Glück
zu vervollkommnen,
kam eben ein Fuhr-
werk daher, dessen
Lenker mich einlud,
mit ihm nach der Stadt
hinunter zu fahren.

Es mußte ihm

-37-

wahrscheinlich komisch
vorgekommen sein,
mich in meinem
derangi[e]rten Anzug,
von Koth über und über
beschmutzt, aber mit
einem fröhlichen glück-
strahlenden Gesichte
zu sehen.

So gegen 3 Uhr
langten wir in der
italienischen Stadt
(zu Oesterreich gehörend)
an.

Mein erster Weg war
zum Postgebäude, um
daselbst eingelaufene
Korrespondenzen in
Empfang zu nehmen,
die denn auch in
ziemlicher Anzahl vor-
handen waren. Alsdann
suchte ich die Penne in

-38-

der Via Altana auf.

Nach mehrmaligem
Irrgehen führte mich
ein brauner Italiener
Knabe dahin. Er mochte
wohl auf ein Trinkgeld
gerechnet haben, allein
völlig mittellos, konnte
ich dem armen Schlingel
nichts geben. Einige
Verwünschungen in
seiner Muttersprache
mir zuschleudernd, die
ich natürlich nicht ver-
stand, entfernte er
sich dann.

Die Herbergsmutter,
eine alte Marburgerin,
erklärte mir, als ich etwas
zu essen verlangte, daß
hier nichts vorhanden, resp[ektive]
zu bekommen sei vor
Abends, denn man lebe
eben wie die Italiener.

-39-

Zu guter Letzt erhielt
ich auf mein Verbands-
buch einige Kreuzer,
um Brot zu kaufen. Als
ich dieses verschlungen
hatte, besichtigte ich die
Stadt, die schon ein
ganz südliches Gepränge
trägt.

Zunächst schlug ich den
Weg nach dem Hafen ein,
denn als Sohn der Berge
intereßi[e]rte mich das Meer
und das Treiben auf demselben
in erster Linie.

Den vorhergehenden
Tag waren eben drei
große Lastschiffe aus Indien
angekommen.

Geraume Zeit schaute
ich dem Ausladen derselben
zu, für mich natürlich
etwas ganz neues.

Mit Blitzesschnelle

-40-

flogen die Reissäcke, denn
die ganze Ladung der
3 Schiffe bestand aus-
schließlich aus Reis, an
den Landungsplatz hin-
unter und eben so schnell
brachte man dieselben
auf die Waage und die
Zollbeamten hatten
vollauf zu thun, um
deren Inhalt zu prüfen.

Um nun mein
Portemonnaie wieder
anzufüllen machte ich
mich auf die Suche zum
Präsidenten des Masch-
inenmeisterclubs, um
das Viatikum im Betrage
von 2 Kronen zu beheben.
Mit der Vermuthung, den-
selben am besten in
der Lloyddruckerei zu
finden, weil mir die

-41-

nähere Adreße fehlte, ver-
fügte ich nach dorthin.
Ich hatte jedoch falsch kalk-
uli[e]rt. Man wies mich
in eine andere Offizin.
Schon war ich zur Thür
hinaus, als man
mich zurückrief, da
es dem Präsidenten
des Küstenländischen
Verbandes eingefallen
war, daß in Goerz
Kondition zu erhalten
wäre.

In Anbetracht der
Erlebnisse der letzten
Tage besann ich mich
nicht lange, sondern
sagte freudig zu, zumal
die Kunst nur 4 Wochen
dauerte, d. h. für die
Zeit, während welcher

-42-

der betreffende Maschinen-
meister in Goerz in der
Uniform des Kaiserrs [sic]
stecken mußte.

Natürlich, aller Mittel
entblößt, konnte ich nicht
gehen, sondern war ge-
nötigt, 10 Kronen Vor-
schuß auf mein Ver-
bandsbuch zu nehmen,
die ich auch anstandslos
von der Sektion Trieste
erhielt.

Glücklich wie ein Prinz
nahm ich das Tramm [sic]
zum Bahnhof und dampfte
um ½ 6 Uhr mit dem
Venedigerschnellzug ab.

Der Abend war wie
geschaffen, eine Fahrt dem
Meer entlang zu machen.
Die untergehende Sonne
beleuchtete dasselbe magisch.

-43-

Es war eine Pracht,
das herrliche Naturschau-
spiel anzusehen.

Unweit dem Kurort
Monfalcone bog die Eisen-
bahnlinie in das
Land ein und führte mitten
durch Weingärten hin-
durch.

Ca. um 7 Uhr kam ich
in Goerz an (ital[ienisch] Gorrizzia) [i. e. Gorizia]
an.

Mit dem Omnibus
fuhr ich von dem außerhalb
Goerz gelegenen Bahnhof in
die Stadt. Der Präsident, an
den ich gewiesen war, fand
ich nicht zu Hause, weil
derselbe, d. h. die ganze
Sezione di Gorzia‟, an
dem Leichenbegängniße
des Collegen J[oseph = Giuseppe] Candutti
teilnahm, der einige
Tage zuvor durch das

-44-

Vorgehen der oesterreichischen
Gerichte [mit Bleistift ergänzt: veranlaßt)], seinen Tod in
den Fluten des Isonzos
suchte.

In einer Osteria
nahm ich sodann ein
frugales Nachtmahl
ein.

Um 8 Uhr suchte ich
nochmals den Präsidenten
Coll[ege] Juch auf, der inzwischen
heimgekehrt war. Er
führte mich in die Offizin,
in deren Dienste ich
morgen treten sollte.

Nachher begab ich
mich auf die Penne
in der Riva Castello [i. e. Via Rastello]
(Cocevia 38), die nun
für 4 Wochen mein
Heim ward.

Dies hiermit der
Schluß, der etwas kurzen
Walz, die aber nach Ver-

-45-

lauf von 4 Wochen wieder
fortgesetzt wird, damit
ich den schon in Strassburg
gefaßten Entschluß,
endlich einmal das
„Land wo die Citronen
blühn‟, Italien zu sehen,
zur Ausführung bringen
kann.

Goerz, den 20. Mai 1902

R. Grimm

P.[S.] Nachfolgend zwei
bekannte italienische
Lieder, mit denen ich
anlässlich meines Goerzer
Aufenthalts bekannt
wurde und die zum Andenken
am Schlusse des I. Teils
niedergeschrieben sein
mögen.

-46-

Ciao etc.

1. Ciao ciao ciao
moretina bella ciao
Avanti di partire
un baccio di voi dar

2. Un baccio la mia mama
E du al mio papà
E cento a la morasa
E poi andro soldat

3. Vesti da belsaliera [= bersagliere]
Vesti di lano [= lana] scura
Vineta [= Veneta] sta sicura
Che mi di sposera

-47-

Itali[enischer] Socialistenmarsch
[Originaltitel: Il canto dei lavoratori. Inno del Partito Operaio Italiano]

Su fratelli! su compagne!

su venite in fitta schiera:

sulla libera bandiera

splende il sol dell' av[v]enir

Nelle pene e nell'insulto

ci stringemmo in muttuo patto

la gran causa del riscatto

niun di noi vorrà tradir.

Se devisi siam canaglia

stretti in fascio siam potenti,

sono il nerbo delle genti

quei che han braccio e

            quei che han cor.

Ogni cosa è sudor nostro,

noi disfar, rifar possiamo

la consegna sia: sorgiamo!

troppo lungo fu il dolor.

-48-

Il riscatto del lavoro

de suoi figli opra sarà

o vivremo del lavoro

o pugnando si morrà.

Gorizia 1. Giugno [19]02

R. Grimm

-49-

Gorizia – Villach – Bozen –

St. Moritz (Julierpass) – Chur –

Glarus – Wald (Zurich) [sic]

Kilometer .   .    700

Tage .  .  .  .  .  .      22

[-50-]

II. Theil

Gorizia, 16. Juni 1902

Also heut ”gammer wieder‟.

Nach 4-wöchentlicher Kunst
wieder glücklich Kunde ge-
worden.

Der erste Tag verlief
ziemlich angenehm und wenn
es keine schlechten geben
würde auf der „Walz‟,
ginge die Geschichte an.

Zunächst holte ich meine
Verbandsdokumente im
Vereinslokal. Es war eben
eine Versammlung, bei
der sich mir Gelegenheit
bot, mit dem Großteil der
Goerzer Kollegenschaft flüchtig
bekannt zu werden.

-51-

Die Kollegen meiner bisherigen
Arbeitsstätte hatten nachher die
Liebenswürdigkeit, mich zu
einem Frühschoppen einzu-
laden.

Die Konzertmusick [sic] des
Hôtels „La Bohême‟ spielte so
frische und muntere Weisen
auf, daß wir darob bald
unser Mittagmahl vergessen
hätten.

Den Nachmittag verbrachte
ich in Gesellschaft von Gen[osse] G.
Slekovez zu.

Wir machten einen
herrlichen Spaziergang in
der Umgebung von Goerz,
der uns im eifrigen Gespräche
nur allzu kurz wurde.

Gorizia, 17. Juni 1902

Den heutigen Tag bestimmte
ich zur Abreise. Es war aber
auch allezeit dazu, wenn

-52-

ich noch in den vorgeschriebenen
5 Reisetagen nach Villach
kommen will.

Am Schluße des ersten
Theils gab ich der Hoffnung
Ausdruck, nach Verlauf der
Goerzer Konditionszeit nach
Italien, dem Wunderlande
zu reisen, allein es wurde
mir ein Riegel vorge-
schoben, dadurch daß in der
italienischen Verbandskassa
keine Munition vorhanden
war.

So nahe meinem Ziele,
wurden meine Pläne
mit einemmal zu nichten
und wohl oder übel mußte
ich von der Ausführung
derselben absehen, weil
es mir eine gewagte
Sache schien, sich durch ganz
Italien nur mit [mit Bleistift durchgestrichen: dem] Fechten

-53-

durchzuhelfen.

Gen[osse] Slekovez hatte mich
auf 8 Uhr noch zu einem
letzten Abschiedstrunk ein-
geladen. So fand ich mich
denn zur bestimmten
Stunde in der Kantine
ein. Leider dauerte unser
Beisammensein nicht
lange, da die militär-
ische Pflicht [mit Bleistift durchgestrichen: rief] Freund Slekovez
schon nach kurzer Zeit auf
seinen Posten rief.

Nun stand ich ganz
allein, denn mit dem
Abschied Slekovez’s war
auch die letzte persönliche
Verbindung [mit Bleistift durchgestrichen: von, und ersetzt durch: mit] den l[ieben]
Grazern abgebrochen.

Ein eigentümliches
Weh beschlich mich, als ich
nach dem Dîner zum
Bahnhof wanderte,
um dann mein Glück

-54-

auf fremder unbekannter
Scholle zu suchen.

Ich wollte mir jedoch
die Gelegenheit, nachdem
ich nur einige Stunden
von der italienischen
Grenze entfernt war,
nicht nehmen lassen,
um wenigstens etwas
von dem südlichen
Lande zu sehen.

Leider hatte der Zug
mit der italienischen
Bahn keinen Anschluß
auf der Grenzstation
Cormons [(furlanisch), italienisch: Cormòns, slowenisch: Krmín, deutsch: Kremaun oder Gremaun] und so mußte
ich bis Abends 7 ½ Uhr warten,
um nach Udine zu ge-
langen. Ich änderte
nun aber meinen
Reiseplan ab und ging zu
Fuß nach Cividale.

-55-

Um 715 Uhr überschritt ich
die oesterreichisch-italien-
ische Grenze, ohne [durchgestrichen: jedoch]
von einem Constabler
angehalten zu werden.
Nach ca 1-stündigem
Marsche erreichte ich ein
kleines Kaff, woselbst ich
hoffte, für die Nacht
Unterkunft zu finden.

In meinem Geld-
beutel befanden sich
noch einige Franken und
so steuerte ich denn
wohlgemut auf das
erstbeste Gasthaus zu und
bestellte vorerst ein
Nachtessen bestehend
aus Salami, Käse, Brot
und Wein, weil etwas an-
deres nicht vorhanden
war.

-56-

Nachdem ich meine
Schuldigkeit beglichen hatte,
und mit dem noch übrig
geblie[be]nen Geld klingelte,
um damit den Wirt,
der zugleich Apothecker [sic]
des Ortes war, eher zur
Gewährung eines Logis’
zu bewegen, brachte
ich mein Anliegen vor,
allein ich wurde kurzer-
hand abgewiesen, ob-
schon mein Äußeres
beßer aussah, als die
Kleider der besser situi[e]rten
Dorfbewohner. Zugleich
eröffnete mir der
Wirt, daß ich voraus-
sichtlich bis Cividale ein
Nachtlager nicht finden
könne.

So war ich denn vor
die Alternative gestellt,

-57-

entweder im Freien
zu schlafen (in der
Kundensprache das sog[enannte]
Plattmachen), oder aber
noch die zweieinhalb
Stunden Weges zu
machen.

Ich zog das Letztere
vor und schritt rüstig in
den lauen Sommer-
abend hinein.

Endlich [mit Bleistift ergänzt: kurz] vor 11 Uhr
erreichte ich das ober-
italienische Städtchen,
hatte aber noch meine
liebe Not, eine Unter-
kunft zu finden, denn
mit dem bis[s]chen Italienisch,
das ich verstand, konnte
sich die Sache nicht so leicht
abthun, ein Deutscher

-58-

kam mir nicht zu Ge-
sicht.

Am Corso Vittorio
Emanuele behielt man
mich schließlich übernacht
in einer Trattoria,
und so war ich denn den
weiteren Sorgen bis
morgens enthoben.

Das Bier mundete,
von einer schwarzäug-
igen Italienerin serviert,
vortrefflich, so dass ich mir
noch einige Schoppen zu
Gemüthe führte.

Mein Geldbeutel
mahnte mich aber doch
daran, meine 4 Pfühle
aufzusuchen und es währte
nicht lange, war ich
schon hinübergeschlummert
in das Reich der Träume.

-59-

Cividale, 18. Juni 1902.

Diese Nacht hatte ich fein
geschlafen. Das Nachtlager
war in jeder Beziehung
preiswert, und ich muß ge-
stehen, daß ich nie ge-
glaubt hätte, in Italien
ein solch gutes reines Bett
zu finden. Ich hatte immer-
hin eine Lira für dasselbe
zu zahlen, aber dennoch
wird man nicht zu jeder
Zeit eine solch gute Schlaf-
gelegenheit finden und zu-
mal als Kunde.

Um 8 Uhr erhob ich
mich, um den Weg fort-
zusetzen nach Oesterreich
zurück.

In einem Kaffe[e]-
haus nahm ich den
„Schwarzen‟ ein, was zur
Follge [sic] hatte, daß ich beim
Traversi[e]ren der Stadt

-60-

von einigen „Lazaronis‟ [i. e. Lazzaroni (italienisch für: «Lumpen»]
angebettelt wurde,
denen ich aber trotz
ihrem eifrigen, zudring-
lichen Gestikuli[e]ren nichts
gab.

Es war ein her[r]liches
Wandern in frischen
Sommermorgen hinein.
Frohgemut ging ich den
Bergen zu und die lieblich
schöne Umgebung stimmte
mich ungemein heiter
und einmal übers andere
ließ ich einen fröhlichen
Jodler [mit Bleistift durchgestrichen: aus]
[mit Bleistift ergänzt: erschallen].

In einiger Zeit
meldete sich auch der
Magen, der mich durch
sein hastiges Knurren
auf sein Recht aufmerk-
sam machte. Im Inter-
esse eines rüstigen
Weitergehens machte

-61-

ich in einem Dorf-
wirtshause Halt und tat
mir bei einem
„Mordstrumm‟ ital[ienischen]
Käse und bei vorzüglichem
Wein gütlich. Beides
schmeckte mir vor-
trefflich, namentlich
aber der Wein, der
wie Erdbeersaft zu
trinken war.

Gelabt und gestärkt
setzte ich meine Route [mit Bleistift verdeutlicht]
wieder fort.

Zu beiden Seiten
der Straße schatten-
spendende Maulbeer-
bäume und tiefer liegend
auf der linken Seite
ein reißendes Berg-
wasser. Sanft erhebt
sich die Straße bis zum

-62-

Fuße des Grenzgebirges,
bis dann das Thal
immer enger wird
und nur noch die Straße und
der Gebirgsbach Raum
finden zwischen dem
Gebirge.

Um 1 Uhr überschritt
ich die Grenze und kehrte
somit nach dem kurzen
Aufenthalt auf ital-
ienischem Boden wieder
nach Oesterreich zurück und
zwar nach dem ,Kron-
lande’ Krain.

Mittlererweile
hatte sich der Hunger
wieder gemeldet.
Weit und breit war aber
kein Haus zu sehen,
ein Mensch natürlich
noch viel weniger.
Ich war daher froh, als

-63-

ich auf dem ital[ienischen]
Zollbureau einen
Grenzwächter um
die Entfernung bis
zum nächsten Dorf
fragen konnte. Der-
selbe war jedoch nur
der italienischen Sprache
mächtig und wollte oder
mochte mich nicht ver-
stehen.

In einer Weile
kam der diensthabende
Offizier herbei, mit
welchem ich mich dann
auf Französisch einiger-
maßen verständigen
konnte.

Zuerst fleppte er
mich, als ich ihm darauf
zu verstehen gab, das [sic]
mich gewaltig durste,

-64-

holte er eine Flasche
Wein herbei, die wir
alsdann gemein-
sam leerten.

Eine solche Flepperei
kann man sich gefallen
lassen, nur schade, daß
diese Art höchst selten
vorkommt.

Der Durst war gestillt
jetzt hieß es aber tapfer
ausholen, um auch den
Magen zu befriedigen.

Nach ca. 1-stündiger
Wanderung in ein-
samer Gebirgsgegend
gelang[te] ich nach dem
Zollort ‘Robič’, einem
kleinen, schmutzigaus-
sehenden Dorfe.

In der Post, froh endlich
ein Wirtshaus gefunden
zu haben, tat ich mir
bei einem Imbiß

-65-

gütlich.

Indessen begann es
unaufhörlich zu regnen,
so daß ich in Anbetracht
dessen, wie auch meines
mit 10 Kronen gespi[c]kten
Portemonnaies nicht
ans Weitergehen dachte.

Des Wirten Töchterlein,
das ziemlich gut deutsch
sprach, riet mir, bis
zu dem eine Stunde
entfernten Karfreit [slowenisch: Kobarid, italienisch: Caporetto, furlanisch: Cjaurêt]
die Post zu benutzen,
da die Landstraße, in-
folge schlechter Verhält-
nisse bei Regenwetter
nicht passierbar sei.

So bestieg ich denn
um 4 Uhr den k.+k.
oesterreichischen Postwagen
und fuhr bis Karfreit, einem
größeren Marktflecken.

-66-

Ich that faktisch gut daran,
dem Rate der Wirts-
tochter von der Post in
Robič zu folgen, denn
was mir dieselbe weis-
sagte, trat auch ein.
Ungefähr in der Mitte
der zwei Dörfer befinden
sich große Weiher, die
bei Regenwetter über [die]
Ufer treten und die
Straße total unter
Wasser setzen. Dasselbe
reichte denn auch bis
zu den Achsen der
Postkutsche. Der Postillion
erzählte mir, daß vor
einigen Tagen das
Wasser so hoch war, daß
es in das Coupé ge-
drungen sei.

In Karfreit ange-
langt, hatte sich der Him-
mel wieder aufge-

-67-

heitert. Ich entschloß mich
deshalb, den Feierabend
noch hinauszuschieben,
und noch einige Zeit
weiterzutippeln. So
tippelte ich [durchgestrichen: dann] der Soca [slowenisch: Soča, italienisch: Isonzo] entlang bis zum
Dorfe Porcido. Und auf
der Post ließ man mich
nach längerer Wechsel-
rede übernachten.

Porcido, 19. Juni 1902.

Es schien [mit Bleistift gestrichen: fast] als ob die
Postwirtin merkte, daß ich
kein Frühaufsteher bin. Schon
um 4 Uhr pochte dieselbe
an die Thüre, doch gab ich
Ihrer Auf[f]orderung, mich
weiter zu trot[t]en, keine
Folge, sondern blieb ruhig
bis 6 Uhr liegen. Dann
nach einem frugalen
Morgenessen, trat ich

-68-

den Weitermarsch an. Mit
einem fröhlichen Jauchzer
begrüßte ich die [zu ergänzen: im] Morgen-
sonnenglanz liegende Gebirgs-
welt. Wie leicht war doch
das Wandern in den
Morgenstunden. Und
welche Veränderung seit
den letzten Tagen. Gestern
noch im Schatten der
Maulbeerbäume und Wein-
reben, heute schon in-
mitten der herrlichen
Alpenwelt. Gegen Mittag
erreichte ich den Markt
Flitsch [slowenisch: Bovec, italienisch: Plezzo, furlanisch: Pleç]. Daselbst wurde
gepackt, um mich für
den Nachmittag wegfest
zu machen. Eine
wildromantische Gegend
[durchgestrichen: befindet sich bei der] ist
die Flitscherklause. Kaum
daß die Soça sich ihren
Weg bahnen kann zwischen
meterhohen Felsen. Zischend
und tosend zerschlagen sich die
Wellen und in schnellendem
Laufe geht es abwärts dem
Thale zu. Schreitet man
ein wenig weiter, erblickt [zu ergänzen: man]

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rechts beim Aufstiege den
krainischen Bergriesen,
Manhart [richtig: Mangart (deutsch), slowenisch: Mangrt, italienisch: Mangàrt], dessen Spitze
sich 2864 m über Meer er-
hebt.

Ein reizender Fleck
Erde, ein erhabenes Stück
Natur bietet sich da dem
menschlichen Auge dar.
Schade nur, daß die
Gegend für eine dauernde
Niederlaßung nicht ge-
schaffen ist, [mit Bleistift durchgestrichen: denn und ersetzt durch: da] auch hier
hat der Moloch Militär
seine Flügel ausge-
breitet, indem es, wohl
an dem schönsten
Punkte, eine Festung
hinstellte und so dem
Wanderer die Gelegen-
heit benahm, sich an
der Schönheit der Natur
zu weiden.

In vielen Krüm-
mungen windet sich

-70-

die Poststraße bis zur
Paßhöhe, des Predil [slowenisch: Predel]. Kurz
vor der Landesgrenze
zwischen Krain und Kärnten
steht eine zweite Festung.
Auf der Paßhöhe selbst
befinden sich zwei ein-
same Gasthäuser, welche
den Wanderer zur an-
genehmen Rast ein-
laden. Der Ausblick ist
hier noch imposanter und
frappierender als beim
Aufstieg und hier zeigt sich
die Pracht und die Herrlich-
keit [mit Bleistift ergänzt: der Natur] erst recht in ihrer
Größe.

Freundlich grüßt der
Manhart, dessen Spitze
momentan von
Wolken umhüllt ist,
majestätisch winken
die [mit Bleistift ergänzt: schneebedeckten] Kuppen des italienischen

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Hochgebirges dem Wanderer
zu.

Es giebt doch nichts groß-
artigeres [sic], nichts schöneres [sic]
als eine Wanderung
in den Alpen, fern
von dem menschlichen
Alltagsgetriebe, von dem
ewigen Hasten und Jagen
nach fernliegenden
unbekannten Dingen.
Wie ganz eigentümlich,
wie so seltsam und zugleich
wohlthuend berührt eine
solche Ex[k]ursion das Menschen-
herz. Wie so wonnig
wird man durch das
Erklingen der Herdenglocken,
vermischt mit einem
lustigen Jauchzer der
fröhlichen Sennerin,
gestimmt. Gerade durch
das Wandern lernt

-72-

man den unendlichen
Reichttum des Natur- und
Menschenlebens kennen.
Beides fehlt einem
Großteil der heutigen
Bevölkerung, das Verständnis
für die Naturschönheiten und
auch die heutige sociale
Gesellschaftsordnung sorgt
dafür, daß so nur einem
kleinen Teil ihrer Mit-
glieder gestattet ist, sich
einige Tage zu befreien,
um die Natur in
ihrer Fülle zu genießen.

Doch ich will ja keine
politische Geschichte schreiben,
sondern nur eine
Reiseerinnerung, also
kehre ich nach diesem
kleinen Abstecher wieder
zu meinen Erlebnissen
zurück.

Um ½ 5 Uhr über-
schritt ich die Grenze der

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beiden Kronländer.

Auch auf kärntnerischer Seite
liegt eine Festung.

Man kann nicht
lange seine Wanderung
fortsetzen. Eine so abwechslungs-
reiche Natur wie hier, muß
auch dem gegen jede
Naturschönheit abgestumpften
Menschen ein bewundern-
des „Ah‟ entlocken. Solche
Fleckchen Erde wie hier,
kann es nur wenige
geben.

Lustig springt der
[durchgestrichen: wilde und ersetzt durch: muntere] Bergbach talabwärts,
dann allmälig seinen
Lauf hemmend, um
sich in der rings von
Bergen umgebenen
Talsohle zu einem See
auszubreiten.

Tiefe, heilige Stille
herrscht überall, hie und da
ein Aufflattern eines

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[mit Bleistift ergänzt:] Gebirgs]vogels, dann aber wieder
die in tiefes Schweigen ge-
hüllte Natur, dazu die
trutzigen Berggipfel, als
wollten sie sagen, hier
sind wir Herr im Hause,
wehe der Hand, die sich
erlaubt, [mit Bleistift ergänzt: in] unsere [mit Bleistift ergänzt zu: unserer] Heiligkeit
zu freveln.

In Gedanken versunken,
immer und immer wieder
die Natur bewundernd,
schlenderte ich auf der Reichsstraße
einher, bis ich dann das
erste kärntnerische Dorf
erreichte, den Touristen- und
Kurort Raib [i. e.: Raibl, italienisch: Cave del Predil, slowenisch: Rabelj].

Nach kurzem Aufenthalt
daselbst, wurde wieder
weiter getrottet bis nach
Tarvis [(furlanisch und deutsch), italienisch: Tarvisio, slowenisch: Trbiž], einem kleinen
Marktflecken mit ziemlich
[mit Bleistift gestrichen: starkem und ersetzt durch: lebhaftem] Eisenbahnverkehr.

-75-

Im Hôtel z[um] Bären wurde
ein trefflich schmeckendes
Nachtmahl eingenommen und
nach Vertilgung einiger
„Krügel‟ suchte ich die Klappe
auf.

Tarvis, 19. Juni 1902.

Heute [lieg mit Bleistift korrigiert zu: blieb] ich bis 9 Uhr
liegen, um meinen
Körper bis für die kommenden
Strapazen preparieren zu
können. Die letzten Tage
hatten mir aber so zuge-
setzt, daß ich mich, ange-
sichts einer kleinen Bar-
schaft, entschloß, die Eisen-
bahn bis nach Villach zu
benützen. Da der nächste
Zug erst ¼ 11 wegfuhr,
hatte ich genügend Zeit,
den kleinen Ort Tarvis mit

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Muße zu betrachten. Ich erlaubte
mir sogar [mit Bleistift ergänzt: den Luxus] für einige
Kreuzer Kirschen zu kaufen
und dieselben als Vorgericht
zu vertilgen. Endlich stand
dann das Dampfroß, von
der italienischen Grenze
herkommend, zur Abfahrt
bereit. Nach 1-stündiger
angenehmer Fahrt langte
ich in Villach a[n] d[er] Drau
an.

Der erste Weg war
natürlich zum Verkehr, der
sich im Gasthaus z[um] Tiger
in der Gärbergasse befindet.
Mit vorzüglichem Appetit
vertilgte ich ein schmack-
haftes und was die Hauptsache
war, [durchgestrichen: ein] billiges Mittag-
essen. Weil ich den heutigen
Tag als Reisetag bestimmt
hatte, blieb ich auf der Penne

-77-

und vertiefte mich in das
Studium unserer Verbands-
zeitungen. Alsdann un-
ternahm ich ein[en] kleinen
Rundgang durch das Städt-
chen, [mit Bleistift korrigert: die zu: das] zwar nicht Be-
merkenswertes besitzt und
dürfte hier auch nicht so
bekannt sein, wenn ihm
nicht die herrliche Umge-
bung einen besonderen
Reiz verleihen würde.

In der Richtung von
Tarvis liegt ca. 1 Stunde
von Villach entfernt ein
gut frequenti[e]rtes Thermal-
bad
. Den Abend ver-
brachte ich im Kreise
einiger Walzbrüder, worunter
ein Kollege sich befand, der
keinen grossen Lärm
machte, er war – taub-
stumm. Armer Kerl!

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Er war ein Bürschchen von
kaum 18 Jahren von
Wiener-Neustadt und nun
seit 14 Tagen auf der
Walz, entfernt vom
Elternhause, weil er
nach beendigter Lehrzeit
von seinem Prinzipale [= Lehrmeister]
auf das Pflaster geworfen
wurde. – Eine Illustrierung
der heutigen kapitalistischen
[mit Bleistift ergänzt: Gesellschafts]Ordnung. Beim Zubette-
gehen erfreuten uns
einige hübsche Kärntner
Stimmen, Dearndln [= Dirndeln] und
Bueben, mit wohl-
klingenden, kärntner-
ischen Volksweisen, bis
uns schließlich der Schlaf
übermannte und wir dem
jungen Morgen [mit Bleistift durchgestrichen: ent-
gegen und ersetzt durch: zu]träumten.

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Villach a[n] d[er] Drau, 20. Juni 1902.

Ausgeträumt und ausge-
geschlafen, gings nun wieder
an die Arbeit, d. h. ans
Weitertippeln. Um 8 Uhr
schnürte ich meinen [sic]
Bündel und hinaus gings
in die freie Natur.
Lachender Sonnenschein
durchfluthete die liebliche
Gegend und an dem azur-
blauen Himmel war
kein Wölkchen zu sehen.

Es war wieder ein
wohl leichtes, wohlthuendes
Wandern, ein süßes
Durchstreifen von
Wald und Feld. Die Sonne
stand schon hoch am
Firmamente, als ich mich
im kühlen Schatten eines
Tannenwaldes nieder-
legte, um ein Mittag-

-80-

schläfchen zu machen. Ueber
4 Stunden mochte ich so
gelegen haben, bis mich
meine Kundenpflicht an[s]
Weitergehen mahnte. Vor-
her aber stärkte ich mich
mit Käs, Salami und Brot, das
mir noch von Villach übrig
geblieben war. Alsdann
wurde tüchtig ausgeholt
in Gesellschaft eines des
Weges ziehenden Korbmachers.

½ 8 Uhr hielt ich meinen
Einzug in dem Spießer-
städtchen Spit[t]al a[n] d[er] Drau.
Das Bier, das auf der
Penne z[um] „Faßel‟ ausge-
schenkt wird, mundete
mir so vortrefflich, daß
ich einige Krügerl ver-
tilgte, ehe ich mich zur
Ruhe legte.

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Spit[t]al a[n] d[er] Drau, 21. Juni 1903 [sic]

Heute mußte ich tapfer
marschieren, wenn ich
mein mir gesetztes Reise-
ziel bis Abends erreichen
wollte. Es schien aber fast,
als ob nichts daraus
werden sollte, denn der
Himmel schnitt ein so gries-
grämiges Gesicht, als wollte
er jeden Augenblick seine
Schleusen öffnen. Vor
meinem Abzug aus
dem kärntnerischen Städt-
chen, klopfte ich die dortige
Bude (F. Nest) ab und um
20 Heller bereichert kehrte
ich Spit[t]al den Rücken.
Außerhalb des Städtchens
gabelte ich einen Bau-
ern auf, der eben mit
seinem Fuhrwerk an
den heimischen Herd zog

-82-

und mich bereitwillig bis
zu seiner Behausung mit-
nahm. Ich war ganz
überrascht, während des
Gespräches zu erfahren, daß
derselbe ein Socialist sei.
Es scheint aber auch
bei der Landbevölkerung
allmälig anfangen zu
tagen. Ich hätte tatsächlich
nicht geglaubt, in der
[gestrichen: rauhen] groben Bauern-
kleidung einen Gesin-
nungsgenossen zu finden.
In Sachsenburg, dem Wohn-
orte dieses Biedermannes,
mußte ich wieder auf
Schusters Rappen gehen.
Ich konnte jedoch zufrieden
sein, denn die Stunde,
die ich per Wagen zurü[c]k-
legte, betrug über 13 km.
Gegen Mittag waren

-83-

auch die düstern Regen-
wolken am Firmament
verschwunden und so tippel-
te ich denn wohlgemuth
auf der Reichsstraße weiter.
Als mir [mit Bleistift durchgestrichen: dann] die Sonne
zu arg zusetzte, haute ich
mich unter einen
Baum, um ein wenig
zu rasten. Da ich aber
noch eine ziemlich große
Kilometerzahl, die zurück-
zulegen ich heute im
Sinne hatte, vor mir
sah, brach ich alsbald
wieder auf. Es wurde
Abends 8 Uhr, der
Kilometerstein, allwo
sich Dellach befinden
sollte war schon längst
erreicht, aber von der
Ortschaft war noch immer
nichts zu sehen.

-84-

Endlich wurde mir das
Laufen zu blöd. In der
Ortschaft Berg hielt ich
bei einem Bauern
um ein Nachlager an,
was mir bewilligt
wurde. So war ich denn
den Sorgen für diese
Woche, resp[ektive] für morgen
früh enthoben.

Berg, Kärnten, 22. Juni 1903 [i. e. 1902]

Das Frühstück, das mir
meine Wirtin servierte,
war entschieden vorteil-
hafter als die Klappe, die
sie mir zur Verfügung
gestellt hatte. Ich würde
wohl ein Straflager, dem
mit den lb. [= lieben] kleinen
Tierchen gefülltem [sic] Bette
vorgezogen haben. Um
½ 8 Uhr schob ich von Neuem
an, obschon es Sonntag

-85-

war. Es giebt halt eben
im Kundenleben keine
Feiertage, da heißt es
drauflosschieben, wenn
man nicht mit der
Schuggerei [= Polizei] in Berührung
kommen will, haupt-
sächlich [mit Bleistift durchgestrichen: aber] auf dem
Lande. Schließlich wäre
es auch jammerschade
gewesen, den schönen
Sommersonntag in
irgend einer Wirt-
schaft zu verbringen.

Im Verlaufe des Vor-
mittags begegnete
ich einigen Kunden,
wobei es natürlich
immer einen Auf-
enthalt gab. Die Essens-
zeit mahnte uns daran,
ein Kaff aufzusuchen,
um die sonntägliche
Stimmung, beßer
eigentlich das Mittag-
essen

-86-

zu profiti[e]ren [= genehmigen]. Ich übergehe
die Schilderung der Gegend.
Dazu fehlen mir die
Worte, um all die Naturschön-
heiten von Kärnten und Tirol
zu schildern. Nach dem
Mittagmahl überschritt
ich die Landesgrenze von
Kärnten und Tirol bei Nicols-
dorf [= Nikolsdorf]. In einem munteren
Bergbache, dessen Wasser, trotz
des [lachenden korrigiert in:] strahlenden Sonnen-
scheins noch ziemlich kalt
war, badete ich mich und
hielt zu gleicher Zeit Wasch-
tag. Erfrischt und gestärkt
durch diese wohlthuende
Abkühlung holte ich neuer-
dings tapfer aus und bei
der Dämmerung stund
ich vor den Thoren des
Städtchens Lienz. Im Gasthaus
Huber daselbst, an der
Reichsstraße, wurde Quartier

-87-

genommen. Die etwas
mißliche Stimmung, in
der ich mich seit einigen
Stunden befand, hervor-
gerufen einerseits
durch das Alleinmarschi[e]ren
in den Sonntag hinein,
anderseits durch die Geld-
beutelschwindsucht, machte
bald einer frischen Fröhlich-
keit Platz, in die ich durch
die lustigen Tirolerlieder
versetzt wurde. Ich hatte
hier inmitten dieser
derben Tiroler und Tirolerinnen
Gelegenheit, den Humor und
die Munterkeit, wie sie
allen Bergvölkern eigen
sind, kennen zu lernen.

Ich wurde durch dieselben
so hingerissen, daß ich
mich erst zur Ruhe legte,
als der Wirt Feierabend

-88-

verkündete.

Lienz, den 23. Juni [1903 korrigiert in:] 1902

Schon um 5 Uhr guckte ich
nach der Witterung aus.
Es macht den Anschein, als
ob nun endlich das längst
herbeigesehnte Sommer-
wetter eintreten wolle.
Trotz des klarblauen Himmels
mochte ich mich doch nicht
schon erheben, sondern
drehte mich nochmals und
schnarchte weiter bis 7 Uhr.
Vor der Abreise stattete ich
der Buchdruckerei Mahl einen
Besuch ab, natürlich nicht
um Kunst zu suchen, sondern
um ein kleines Reise-
geschenk rauszuholen.
Ich war herzlich froh, meinen
schweren Kopf, den ich zum
Andenken an das Huber-
gasthaus hatte, in der freien
Luft kurieren zu können
und ich bedauerte aufrichtig
all die katzenjammer-
tragenden Gestalten, die

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heute bei dem wunderschönen
Wetter in geschloßenen Fab[r]iks-
räumen stecken mußten,
hauptsächlich wenn es Ihnen
vergönnt gewesen wäre,
wie mir, im Anfange
des bekannten Pusterthales
lustwandeln zu können.
Angenehm berührten
mich die schmucken Tirol-
ertrachten, die von alt und
jung, reich und arm getragen und
in Ehren gehalten wer-
den. Es ist überhaupt das
Tragen der Nation Kleider
in Oesterreich, namentlich
in den Alpenländern
vielmehr im Gebrauch,
als in meinem Heimat-
lande, der Schweiz, wo die
Nationalkostüme bereits
auf den Aussterbeetat ge-
setzt sind.

Die gutmütigen Tiroler
hatten meinen ‘Fechtermut’
dermassen auf die Höhe

-90-

gebracht, daß ich zur Mittags-
zeit ohne weiters in das
erst beste Bauernhaus ein
trat, um meinen knur-
renden Magen zu besänft-
igen. Ich hatte mich auch
nicht getäuscht und ich konnte
mich an saurer Milch,
Knödeln und Hanf satt-essen.
Die Knödel hielt ich mir
aber vom Leibe, beßer
vom Munde, diese Art
Speise konnte ich nicht
zu mir nehmen. Nach dem
obligatorischen Mittagschläf-
chen trottete ich wieder
weiter und erreichte bis Abends
das Dorf Vierschach [italienisch: Versciaco]. In-
folge Geldmangel sprach
ich von Neuem bei einem
Bauern zu. Ich hatte nicht
an andere Thüren klopfen
müssen, schon bei dem ersten
Bauernhof hieß man mich

-91-

bleiben. Das „Gueta Appetit‟
des schneidigen Tirolerkindes
hätte es nicht notwendig
gehabt, was dasselbe wohl
an der leeren Suppen-
schüssel gesehen haben mag.
Als ich dann der Bauern-
familie genug von
meinen Reiseerlebnissen
erzählt hatte, suchte ich [durchgestrichen: mich]
mein Strohlager auf und
schlief von allerlei Schaber-
nack träumend bis
zum frühen Morgen.

Vierschach, 24. Juni 1903 [i. e. 1902]

Bevor ich wieder an
meine Arbeit ging,
wartete mir die Bäuerin
mit einer kräftigen Milch-
suppe auf und [durchgestrichen: d] in die
Tasche steckte sie mir zwei
Krapfen, zum „Jausen‟ wie
sie meinte. Dann ein

-92-

herzliches „Vergelts Gott‟ und fort
gings, hinaus in die freie
Welt. Nimmt mich
nur wunder, was uns[e]rm
Petrus wieder über die
Leber gekrochen ist, daß er
so ein verdrießliches Gesicht
machte, als wollte er
jeden Augenblick die Erde
mit seinem Naß beglücken,
vielleicht war [mit Bleistift ergänzt: er] der Feier
des Sonnwendtages nicht
hold, der hier allgemein
gefeiert wird.

Um ½ 8 Uhr hemmte
ich meine Schritte, veran-
lasst durch eine große
Inschrift auf der rechten
Wegseite. Es ist dies ein
Hinweis auf die Wasser-
scheide zwischen dem
Adriatischen und dem Schwarzen
Meere. Es sind folgende
Angaben darin enthalten

-93-

WASSERSCHEIDE

zwischen dem

ADRIATISCHEN           MEERE

und zwischen dem

SCHWARZEN              MEERE

RIENZ                            DRAU
Schw. M.         1226             Adr. M.
ü[ber]
M[eer]

Der Weg führte mich durch
zahlreiche Kurorte und Sommer-
frischen, u. a. Junichen,
Doblach, Welsberg und Bruneck.

Das Fechtglück schien mir
heute nicht hold zu sein.
Trotz mehrfachem Thür-
schwellenputzen, kriegte
ich nichts als 2 Knödel, die
[ich] selbst bei dem größten
Hunger nicht vertilgen

-94-

konnte. Ja, selbst ein
halbstündiger Umweg
zu einem entlegenen
Bauerngehöft trug mir
nichts ein. Schließlich
begegnete ich einem
alten Walzbruder, dem
ich meine Pfeife samt
Taback [sic] um 50 Heller ver-
kaufte. Glücklich, einige
Nickel zu besitzen, schob
ich in den ersten Bäcker-
laden hinein um,
nicht etwa meine Baar-
schaft in Waare umzu-
tauschen, sondern um
zu fechten. Ich wurde
jedoch abgewiesen und es
blieb mir dann nichts
anderes übrig, als für
einige Kreuzer Hanf
zu kaufen, den ich hastig
vertilgte.

-95-

Nicht einmal in der
Buchdruckerei Bruneck konnte
ich einige Kreuzer machen,
obschon ich dem Alten das
Blaue vom Himmel her-
unter schwatzte. Nun ich
dachte mir, wenns heute
nichts ist, wirds morgen
wieder etwas geben.
Auf der Suche nach einem
Nachtlager hatte ich ent-
schieden mehr Glück. Auf
einem einsamen Bauern-
hof etwas außerhalb dem
Städtchen Bruneck bewirtete
man mich flott, was ich
wohl meiner Eigenschaft
als Schweizbürger zu ver-
danken hatte, denn der
Bauer hatte eine Tochter, die
in Stellung in Arosa war, und
da war dem biederen Land-

-96-

mann jedenfalls weich ums
Herz, als ich ihm Auskunft
über meine Heimat
gab. Hab Dank für deine
Freigi[e]bigkeit, du wärschhafter [sic]
Tiroler.

Bruneck, 25. Juni 1903 [i. e. 1902]

Gegen zehn Uhr stieß ich
auf einen Trupp Kunden, die
dort am Wegrande lager-
ten. Selbstredend setzte ich
mich zu ihnen, fragte nach
der „Religion‟, wohin und woher.
Es war unter ihnen ein
Kollege, ein Maschinen-
meister aus Budapest, und ein
Schlosser, die für die nächste
Zeit auch meine Reis[e]-
kollegen sein sollten, da auch
sie sich in die Schweiz machten.
Die anderen Leidensgenossen
verloren sich nachher in
Franzensfeste, da dieselben nach
der Honigstadt [= Wien] tippeln wollten.

-97-

Indessen machten wir einen
Hock vor Franzensfeste, da um
12 Uhr die Durchfahrt von
ca. 30 Automobilen vorsich-
gehen sollte, die vor zwei
Tagen Paris verlassen hat[t]en
und sich nun auf einer
Wettfahrt nach Wien be-
fanden. Zum Zeitvertreib
wurde unser Buchdruckerspiel,
das Quaträteln aufs
Tapet gebracht. Ja wir er-
laubten uns sogar, je-
weilen um 1 Kreuzer zu
spielen. Zwei von unsern
Brüdern wären zu guter
Letzt bald „hochgegangen‟
d. h. der Polizei in die
Hände gefallen. Sie „balsten‟
in einem Wirtshause, als
eben eine Gendarmerie-
patrouille vorbeikam.

-98-

Glücklicherweise konnten wir
unsere zwei Kumpane
noch rechtzeitig avisi[e]ren, so
daß sie der Gefahr für diesmal
mit knapper Not entronnen.

Mittlererweile erblickten
wir bereits große Staub-
wolken, die auf die bewußten
Automobile hindeuteten. In
längeren Zwischenpausen sausten
dieselben an uns vorbei.
Wir begrüßten unsererseits
[umgestellt:] die Vehikel jeweilen mit
einem „Mordshallo”. Im
Verlauf von 1 Stunde
war der Wagentroß vorbei-
gefahren. Es hieß sich nun
um etwas zum beißen
umsehen. Einige unserer
Karawanne [sic], die [durchgestrichen: ware] im
Besitz von wenigen Baar- [sic]
mitteln waren, hatten die
Generosität, uns zu einem

-99-

kühlen Trunke einzuladen.
Da meine Baarschaft
in ein Nichts zusammen-
geschmolzen war, pumpte
ich vom Kollegen Taks eine
Krone, wofür mir die Wirtin
einen Mordstrum Käse
vorsetzte.

Am Scheidewege an-
gelangt, trennten wir
uns, die einen links, die
anderen rechts gehend.
Unter Singen und Jauchzen
zogen unser drei gegen
Brixen zu, allwo wir
um 4 Uhr ankamen.
Auf dem Buchdruckerver-
kehr daselbst, beim Thaler-
wirt, logi[e]rten wir uns
ein, natürlich vorerst
auf Pump, da das
Viatikum erst Abends
ausbezahlt wurde. Ja wir

-100-

leisteten uns sogar das Vergnüg-
en, bis 7 Uhr eine Kegelpartie
zu machen, angesichts des zu
erhaltenden Vatikums.
Der Bankier wurde alsbald
aufgesucht und mit gefülltem
Portemonnaie kehrten wir
zur Penne zurück.

Wir ließen dann der
echten Buchdruckergemütlich-
keit Zügel schießen, es waren
insgesamt 5 Schwarzkünstler
anwesend, bis uns die
Kellnerin in die Klappe
spedierte.

Brixen, den 26. Juni 1903 [i. e. 1902]

Heute gings drei Mann
hoch, just ein Kleeblatt,
weiter. Bevor wir der
Stadt den Rücken kehrten,
machten wir einen aller-
untertänigsten Besuch
in einem Kapuziner-
kloster, kriegten aber
statt des erhofften Déjeuners
nur ein Stück Schwarzbrot,

-101-

trotz der Mühe, die wir
uns gaben, rechte fromme
Gesichter zu schneiden. Wir
beeilten uns nun weiter
zu kommen, damit wir
bis Mittag im Morkte [sic]
Klausen eintreffen, aus
dem Grunde, da sich in
dem Orte ein Kloster be-
fand, das uns unter
allen Umständen das
Mittagessen liefern mußte.
Schlag 12 Uhr hielten wir
unsern Einzug in dem
schmutzigen Marktflecken
und just zur rechten Zeit
schloßen sich die Pforten
des Klosters hinter uns.
Mit einer kräftigen
Schnalle und 2 Keilen Hanf
stärkten wir unsere
Kundennatur, um uns
nach einem „Gelobt sei

-102-

Jesus Christ‟ aus dem Staube
zu machen. Als Dessert
bestellten wir uns in
einer Wirtschaft ein Glas
Wein. Die Sonne beschien
unsere ohnehin etwas matten
Kundenlieder so intensiv,
daß wir uns unter
einem Baume nieder-
legten und schliesslich vor Müdig-
keit einschlummerten.
Um 5 Uhr brachen wir auf.
Süß schmeckende Kirschen
verscheuchten unsern „Kohl-
dampf‟, der sich ganz
gewaltig bemerkbar machte.

Nach einer zweistündigen
strammen Wanderung
[durchgestrichen: erreichten] durch eine
äußerst wildromantische
Gegend, langten wir in
dem Dörfchen Atzwang ein.
Der Gasthof z[ur] Post bildete
unser Abstiegquartier.

-103-

Wir ließen uns eine
kräftige Mehlsuppe auf-
tischen und legten uns sogleich
zu Bette. Bereits im Halb-
schlummer liegend, wurden
wir durch die Ankunft zweier
weiterer Kunden geweckt und
anstatt weiter zu schlafen,
plauderten wir noch
einige Stunden.

Atzwang, 27. Juni 1902.

Ohne ein Frühstück
einzunehmen, trotteten
wir 3 im Verein mit
einem alten Kunden,
einem ehemaligen
Student[en], ab nach Bozen
zu. Wir mußten ziemlich
ausholen, um bis Mittag
das südtirolische Städtchen
zu erreichen, da wir
anderenfalls unseres
in Bozen winkendens
Viatikums verlustig

-104-

gegangen wären. Trotzdem
fanden wir Muße genug,
uns von dem alten
Kumpanen allerlei Geschichten
und Erlebnisse erzählen zu lassen,
die die Verhältnisse eines
durch unsere heutigen
Gesellschaftszustände aus
der geordneten Lebensbahn
geschleuderten Sprößlings
unserer Bourgeo[i]sie
im grellsten Lichte er-
scheinen ließen. Mit
dem Mittaggeläute
hielten wir Einzug in
Bozen. Im Gasthof zum
Thurm nahmen wir
ein frugales Mittagessen
zu uns, d. h. mein
Kollege und ich, die andern
zwei waren eben „Arm
am Beutel und krank im Magen‟.
Wir erlaubten uns sogar
den Luxus, Billard zu spielen,
bis die Stunde schlug, unser

-105-

Viatikum in Empfang
zu nehmen. Als wir
dann die 80 Heller im
Sacke hatten, schritten wir
zum jenseitigen Stadt-
thor hinaus gegen Gries,
das an Bozen angebaut
ist. Kaum hatten wir
unserem Gefühle, daß uns
ganz gewaltig hungere,
gegenseitig Ausdruck ver-
liehen, als wir linker [wohl eher: rechter]
Hand ein großes Kloster [Anm.: Muri Gries]
erblickten. Wir hatten
nicht notwendig zu
besprechen, ob wir uns
diesen Fingerzeig zu
Nutzen machen wollten
oder nicht, es steuerte
ein jeder instinktsgemäß
den geistlichen Pforten
zu. Nach Abwickelung
des übliche[n] Ceremonels [sic]
gaben wir unser

-106-

Begehren kund und erhaschten
trotz der vorgerückten Stunde
und trotzdem es Freitag
war ein zünftiges „Milch-
becki” voll schmackhafter
Suppe, wozu natürlich
ein Stück Schwarzbrot nicht
fehlte. Mit demüthiger
Miene, aber mit gefülltem
Leibe verabschiedeten wir
uns von den Kutten-
männern und zogen
unseres Weges. Doch
kaum ein halbes Stündchen
unterwegs, setzte uns
die Schnalle so zu, daß
wir uns genötigt
sahen, Rast zu machen
und die Klostersuppe zu ver-
dauen. Bei einem
Glase Wein, das man
uns in einem Bauern-
hause über unser Ver-
langen bereitwilligst
schenkte, hatten wir Gelegen-

-107-

heit, unsere Verdauungs-
beschwerden zu beseitigen.
Mit der untergehenden
Sonne huben wir noch-
mals an, unsere
Spazierhölzer in Beweg-
ung zu setzen. In dem
Dorfe Terlan erhielten
wir in einem schmucken
Bauernhofe, mitten in
einem großen Reb-
berge stehend, Unter-
kunft. Immerhin
mußten wir unser
Lager in duftendem
Heu ohne Nachtessen
aufsuchen, da der Bauer
keine Miene machte,
uns etwas zukommen
zu lassen. Na, schließlich
drückten wir die Augen
auch mit knurrendem
Magen zu und schliefen
ebenso gut, als wenn

-108-

wir etwas zu tafeln ge-
habt hätten.

Terlan, den 28. Juni 1902.

Zeitig nahmen wir den
Weitermarsch auf, denn
bis Meran hatten wir noch
eine ansehnliche Strecke
zurückzulegen und die Ebbe
in unseren Portemonnaies
ließ [mit Bleistift durchgestrichen: uns nicht und ersetzt durch: es nicht zu,] noch
vor der südtirolischen
Stadt einen Halt [zu] machen.
Ein Nebenfluß des Etsch
kam uns sehr zu patten.
Als die Sonne am höchsten
stand, entledigten wir
uns unserer Kleider und
tauchten unsere be-
staubten Körper in
die Fluten des dahineilenden
Flußes. Gestärkt und erfrischt
durch das Bad, wurde

-109-

von neuem tapfer aus-
geholt und um 5 Uhr
erreichten wir den
herrlich gelegenen Winter-
kurort Meran.

In der Offizin Pötzelsberger [i. e. Pötzelberger]
daselbst erhaschten wir
50 Heller, die sofort in
„Waare‟ umgesetzt wurden.
Alsdann machten wir,
da die Zeit zum Viatizi[e]ren
noch nicht da war, einen
Rundgang durch die Stadt,
die uns gar wohl ge-
fiel, die wir jedoch mit
ganz andern Gefühlen
angesehen hätten, wären
unsere Taschen nicht
leer gewesen. Doch der
„Herrgott”, dem wir
allerdings sonst nichts
nachsagen, läßt ja
niemanden darben und
so winkte[n] denn auch

-110-

uns die Moneten
bei dem Verbandskassier, der
[duchgestrichen: uns] mir für die zurückgelegten
und noch zurückzulegenden
Tage den Betrag von
fs Kronen 7.20 verabfolgte.
Im goldenen
Kreuz wurde dann ein
Häferl Bayrisches ge-
schmort, sowie ein
zünftiges Nachtmahl
eingenommen. Dann
Rückkehr zur Penne im
Löwen. Da im Verein
mit einigen Kunden
führten wir eine leb-
hafte Unterhaltung,
bis wir uns mit
Rücksicht auf unsere
prekären Mittel [durchgestrichen: zu
und mit Bleistift ersetzt: nach] unsern Lagerstätten
zurückzogen.

Meran, 29. Juni 1902.

Gewöhnlich pflegt man
nach einem wohlthuenden [zu ergänzen: Mahl]

-111-

einer [sic] guten Nachtruhe zu
pflegen, im Kundenleben
jedoch scheint es nicht immer
nach diesen Regeln zu gehen.
Kleine Tierchen, die man
gewöhnlich lieber nicht
kennen wollte, geschweige
denn mit ihnen in Berühr-
ung zu kommen, hatten
meine Schlafgenoßen und
mich des erquickenden
Schlafes beraubt, so daß
wir froh waren, den Morgen
herannahen zu sehen.

Zornig und mißgestimmt,
unser Geld ausgegeben
zu haben, um den Wanzen
Gesellschaft und Amusement
zu bereiten, kehrten wir
der Penne schon zeitig den
Rücken und schlenderten in der
in Morgenruhe liegender [sic]
Stadt herum. Allmälig
begann sich das sonntäg-
liche Leben und Treiben zu regen,
vom Land her pilgerten die
derben Tirolerbauern und -Bäu-
erinnen in ihren schmucken

-112-

Nationalkostümen zur Stadt-
kirche. Wir unserseits hatten
natürlich kein Verlangen
nach geistiger Nahrung
dieser Art, wir machten
uns in erster Linie auf
die Suche nach einem
Morgenessen. Wir be-
glückten den Gasthof z[um] Kreuz
mit unserm Besuch.
Ein Glas „Bayrisch‟ und ein
kräftiges Gulasch ließen
auch uns den Sonntag
einleiten. Gegen 9 Uhr
verließen wir das uns
besonders durch sein Un-
geziefer denkwürdige
Meran, ohne aber den
obligaten Besuch im
dortigen Kapuzinerkloster
zu vernachlässigen. Er
trug uns zwar leider nur
einen Keil Hanf ab, denn
für den Kaffee zu erhalten,
hatten wir zu spät die
Klosterglocke gezogen. So
zogen wir unter der
brennendheißen Morgen-
sonne landeinwärts

-113-

d. h. eigentlich landauswärts,
denn nur noch eine geringe
Anzahl von Kilometern
trennte uns von der Grenze
meines Heimatlandes.

Der Sonntag hatte
unsern Beinen die Kraft
genommen, um eine
längere Strecke zurückzu-
legen. Schließlich als die
Sonne nach dem Westen
hin ihren Lauf nahm,
brachen wir von Neuem
auf. Der Weg von Meran
bis Naturns ist ebenso
reizend als interessant;
die reißende Etsch verleiht
den saftigen Wiesen und Triften [= Weiden]
ein eigenes Gepräge. So
besonders ca. 1 Stunde außer-
halb Meran, wo der wilde
Berggeselle munter
über die Steine springt,
um sich dann in vollem Laufe

-104- [i. e. -114-]

über eine hohe Felswand
zu ergießen, einen be-
wunderungswürdigen
Waßerfall bildend.
Im Laufe des Abends
hatten wir noch Gelegen-
heit, das Tirolervolk in seiner
malerischen, farbenreichen
Tracht zu bewundern.
In einem kleinen Bauern-
dorfe außerhalb Naturns
konnten wir Unterkunft
bei einem Bauern finden.
Wir mußten uns aber
mit hungrigem Magen
zu Bette legen, da der
Mann nicht so splendid
war, uns etwas Eß-
bares vorzusetzen.

30. Juni 1902

Schon 5 Uhr morgens verließen
wir das duftende Heulager. Der
Hahn mit seinen Krähen
machte uns ein Weiterschlum-
mern unmöglich, wir
mußten uns, wenn auch
nur ungern, aus dem

-105- [i. e. -115-]

Staube machen. Von dem
Logis spendenden Bauern ohne
Morgenessen entlassen,
versuchten wir in erster
Linie dem hungrigen
Leibe etwas [unleserlich: Ko]nsistentes
zuzuführen und machten in
der Folge etlichen Bauern-
häusern Visite. Unsere
Bemühungen waren von
Erfolg gekrönt. Die Taschen
mit hartem Bauernbrot,
den Magen mit labender
Milch gefüllt, wurde in
den blauen Montag hinein-
geschritten. Vereinzelte
Kirschbäume, deren Früchte
uns entgegenlachten,
ließen uns Halt gebieten
nach kurzer Wanderung.
Ohne auf die Nebenum-
stände zu achten, erkletterten
wir den nächsten Baum
und kosteteten [sic] nach Herzens-
lust die saftigen Kirschen.
Mittlererweile langte auch
unser dritter Kumpane – der

-106- [i. e. -116-]

Schlosser – an. Nachdem auch er
noch seinen „Gluster‟ be-
friedigt hatte, brachen wir
auf und durchwanderten die
herrliche Alpenlandschaft,
begünstigt vom schönsten
Hochsommerwetter. Wir
durchzogen die schmucken
Dörfer Laas [= Latsch] und Schlanders und
erreichten Abends 8 Uhr
das zum Nachtlager be-
stimmte Schluderns. Wie
gewöhnlich, trennte sich
unser Schlosser von uns,
sich allein um Unter-
kunft bemühend. Am
Dorfende fanden auch wir
Aufnahme in einem
stattlichen Bauernhofe und was
das Beste war, wir empfingen
ein schmackhaftes Abendessen.
Ich war mir beim Einschlafen
bewußt, daß es nun vor-
aussichtlich das letzte Mal
sein werde, wo mir Oester-
reichs Boden auf dem ich mich

-107- [i. e. -117-]

[Hier bricht der Text der "Reiseerinnerungen" ab.]

Erläuterungen

Manuskriptseite

Textstelle

Erläuterung

Titelseite

Robert Grimm war er am 1. September 1902 als Typograph in die Pruntruter Druckerei «Le Jura» eingetreten, welche die gleichnamige Zeitung druckte und herausgab. Von Pruntrut (französisch: Porrentruy) ist er am 2. Juli 1904 nach Bern weggezogen (vgl. Voigt, S. 39). (Quelle: SHAB 23. Jg., Nr. 262 vom 23. Juni 1905, Seite 1045: Eintrag der Firma «Le Jura» als neu gegründete Aktiengesellschaft («société par actions») ins Handelsregister)

1

Florian Drößler, Josef Herzog und Dr. Michael Schacherl gehörten damals zu den führenden Köpfen der Grazer Sozialdemokratie: Drößler war 1890 einer der Gründer der Zeitung «Arbeiterwille». Diese wurde ab 1897 von Michael Schacherl geleitet und erschien ab dem 16. Oktober 1900 täglich. Drößler und Herzog wurden per 1. Januar 1901 in den Grazer Gemeinderat (Legislative) gewählt. (Quelle: Martin Amschl, Das rote Graz. 150 Jahre Grazer Sozialdemokratie, Graz: CLIO 2018, Seiten 32 und 46)

3

Graz: Die Landeshauptstadt der Steiermark liegt an beiden Seiten des Flusses Mur.

6

Praktisch alle Buchdrucker-Gewerkschaften hatten Reiseunterstützungskassen. Diese entrichteten den wandernden Typographen das Viatikum (Reisegeld). Im Ausland galt das Prinzip der Gegenseitigkeit, d. h. Reisende jedweder Nationalität erhielten das landesübliche Viatikum, sofern sie Verbandsmitglieder waren.

7

«Windisch» war im 19. Jh. die übliche Bezeichnung für die slowenische Sprache. Grimms Meinung, es handle sich dabei um eine Mischsprache, ist aus sprachwissenschaftlicher Sicht falsch: Slowenisch ist eine eigenständige südslawische Sprache.

8

aufdrehen: österreichisch für: schimpfen, wirbeln

9

Hermandad (spanisch für «Bruderschaft»), Mehrzahl: Hermandades waren örtliche Polizeitruppen, die bis 1835 in vielen Städten Spaniens bestanden. (Quelle: Wikipedia.) Grimm gebraucht das Wort im ironischen Sinn, um sich über den Polizisten zu mokieren.

12

Die Deutschnationalen waren eine zersplitterte Bewegung in Österreich-Ungarn des 19. Jahrhunderts. Aus ihr hervorgegangen war unter anderem die nationalistische, antiklerikale, antisemitische Alldeutsche Vereinigung, die bei den Reichsratswahlen 1901 stark zulegen konnte. Davon hat sich 1902 die Deutschradikale Partei abgespalten. (Quelle: Wikipedia)

15

Gemeint ist der örtliche Verwalter der Reisekasse der Buchdrucker.

16

Das Hotel, das Juri Strauß Ende des 19. Jahrhunderts errichten liess, befand sich am Bahnhofpatz schräg vis-à-vis der Hauptpost. Es wurde später in «Hotel Pošta» umbenannt und beim Ausbau der Ausfallstrasse abgerissen. (Quelle: https://www.kamra.si/digitalne-zbirke/item/hotel-posta.html)

21

Die slowenische Gemeine Prebold (deutsch: Pragwald) hiess bis 1952 Sveti Pavel pri Preboldu (deutsch: St. Paul bei Pragwald), benannt nach der im 13. Jh. erstmals erwähnten Kirche St. Paul.

23

Das österreichische Kronland (Verwaltungsregion) Krain ging 1918 in Slowenien auf. Sein Hauptort war Laibach, slowenisch: Ljubljana, heute die Hauptstadt der Republik Slowenien. (Quelle: Wikipedia)

24

Der Bahnhof in Richtung Ljubljana, der am nächsten bei Krašnja liegt, ist Domžale (slowenisch, deutsch: Domschale).

24

Der Gasthof «Zum Bayerischen Hof» befand sich an der Slovenska Cesta 55, wo heute (2020) ein Geschäftshaus steht. Die darin untergebrachte Apotheke trägt noch immer den Namen «Bavarski dvor» (slowenisch für «Bayerischer Hof»).

26

Eisenbahnverbindung von Wien nach Triest. (Quelle: Wikipedia)

27

Die Druckerei (Tiskarna) in Postojna war 1851 von Jožef Blaznik gegündet worden. 1856 verkaufte er sie an Maximiljan (Maks) Šeber (Schäber) sen. (1822-1885). Dessen Sohn Rihard (1857-1904) führte den Betrieb bis zu seinem Tod. Zurzeit von Robert Grimms Durchreise dürfte sich der Betrieb an der Ulica Luke Čeč 2 befunden haben. Rihards jüngerer Bruder Maximiljan (Maks) Šeber jun. (1862-1944) setzte die Familientradition mit der Errichtung einer modernen Druckerei an neuem Standort fort. Die Tiskarna Šeber bestand bis 1948, als sie verstaatlicht und in Nanos Printing Works umbenannt wurde. (Quelle: http://www.primorci.si/osebe/%C5%A1eber-(sch%C3%A4ber)-maksimiljan-(maks)/965/)

35

Verwaltungsregion des Kaisers. (Quelle: Plattform Politische Bildung)

42

Der Küstenländische Buchdruckerverein hieß auf Italienisch Associazione della Stampa Giuliana. Bis 1918 war Julisch Venetien als «Österreichisches Küstenland» bekannt. (Quelle: Societât Filologjiche Furlane, Biblioteche de la sede di Guriza Fondo USSAI, 2010)

44

Gemeint ist die lokale Sektion der Associazione della Stampa Giuliana, des Küstenländischen Buchdruckervereins.

44

Giuseppe Candutti (1866/67 - 13. Mai 1902) war Typograf und Redaktor der Zeitung Corriere di Gorizia. Als «glühender Sozialist» präsidierte er sowohl die Federazione dei lavoratori del libro als auch die lokale Sektion der Società dei tipografi. Die Tageszeitung Il Friuli berichtete am 15. Mai 1902, Candutti habe sich zwei Tage zuvor gemeinsam mit seiner Geliebten Maria Grusovin das Leben genommen. Als Grund für seine Verzweiflungstat gab Candutti in seinem Abschiedsbrief die zweieinhalb Monate Kerkerhaft an, zu welcher er in einem Ehrverletzungsprozess verurteilt worden war, und die er nicht überstehen würde. Bereits im Januar 1898 waren Candutti und ein zweiter Mann zu einer Busse verurteilt worden wegen eines ähnlichen Vergehens. Als Präsident der sozialistischen Gewerkschaftsorganisation in Gorizia hatte Candutti die Textilarbeiter in einem Arbeitskampf mit der lokalen Unternehmung Straccis unterstützt. (Quellen: Art. Il doppio sucidio di Gorizia. Due amanti che si gettano nel fiume, in: Il Friuli: giornale politico-amministrativo-letterario-commerciale (Udine) Anno 20, No. 116, 15 Maggio 1902, p. 1. Art. Un tipografo socialista suicida, in: Il Proletario Anno 3, Nr. 469, 15 Maggio 1902, p. 2. Art. Die Lebensmüden, in: Arbeiterwille (Graz) 13. Jg., Nr. 110 vom 16. Mai 1902, Seite 3. Art. Aus dem Schwurgerichtssaale, in: Tiroler Grenzbote 32. Jg., Nr. 10 vom 9. März 1902, Seite 4. Art. Due gornali friulani processati da un prete italianofobo, in: Il Friuli: giornale politico-amministrativo-letterario-commerciale (Udine) Anno 16, No. 23, 27 Gennaio 1898, p. 2 Anna Di Gianantonio, Gorizia, in: La CGIL e il Friuli Venezia Giulia 1906-2006. Il rapporto tra territorio, società e movimento sindacale dagli inizi del Novecento alla recente attualità, a cura di Gian Luigi Bettoli e Sergio Zilli, Mestre: Comp-Editoriale Veneta [2006], vol. 2, pp. 290-342, e spezialmente p. 294: «Giuseppe Candutti, presidente dell’organizzazione sindacale socialista, riunì quotidianamente i lavoratori presso l’osteria “All’Operaio” di Straccis a Gorizia per discutere ed indirizzare la lotta dei tessili. I dirigenti socialisti si impegnarono per la riassunzione dei lavoratori, per la fissazione di tre fasce salariali, in modo da evitare la diversità delle paghe creata dal cottimo e per l’ottenimento di una pausa di venti minuti durante la mattinata.», online: http://www.storiastoriepn.it/la-cgil-e-il-friuli-venezia-giulia-1906-2006/)

45

Genosse Giuseppe (auch: Giuzeppe) Juch, der an der zivilen Trauerfeier die Grabrede für Giuseppe Gandutti gehalten hatte, war als Buchdrucker bei der Tipografia Ilariana angestellt. Diese verlangte von ihm, sich «in Zukunft jeder Thätigkeit zu enthalten, die den katholischen Charakter dieser Druckerei schädigen könnte, geschweige denn theilzunehmen an irgendwelchen antikatholischen oder sozialistischen Vereine.» Als Juch sich weigerte, wurde er sofort entlassen. Nach einem mehrtägigen Solidaritätsstreik des ganzen Personals wurde die Entlassung zurückgezogen. Vgl. Art. Klerikale Sklavenhalter, in: Arbeiter-Zeitung (Wien) 14. Jg., Nr. 204 vom 26. Juli 1902, Morgenblatt, Seiten 1-2, online; Art. Eine clericale Frechheit, in: Arbeiterwille (Graz) 13. Jg., Nr. 170 vom 27. Juli 1902, Seite 7, online. Einige Jahre später führte Juch in Gorizia eine eigene Druckerei, die Tipografia Giuzeppe Juch.

45

Im Nachlass Robert Grimm (BAR: J1.173#1995/202#12* «Verschiedene Andenken») befindet sich auch eine Ausgabe von «Il Gazzettino popolare» (Anno 1, Numero 127, Sabato 14 Giugno 1902). Diese Tageszeitung erschien in den Jahren 1902 bis 1915 und wurde bei der Tipografia Spiridione Skert gedruckt, die sich an der Kreuzung via Seminario 12 / via S. Giovanni 1 in Gorizia befand. Bei der überlieferten Ausgabe handelt es sich vermutlich um die letzte Nummer des Blattes, an deren Druck Robert Grimm beteiligt war, also ein persönliches Erinnerungsstück des Wandergesellen. (Quelle: OPAC SBN)

52

Es könnte sich um Dr. med. Gustav Slekovez handeln, der im Grazer Stadtbezirk Eggenberg eine Praxis führte. Auf Seite 54 bringt Grimm ihn mit den «lieben Grazern» in Verbindung. (Quellen: Grazer Volksblatt 37. Jg., Nr. 224 vom 18. Mai 1904, Morgenausgabe, Seite 2, online; Arbeiterwille (Graz) 18. Jg., Nr. 285 vom 1. Dez. 1907, Seite 18, online)

68

Ein Dorf dieses Namens lässt sich in dieser Region nicht nach-weisen. Es könnte Ternova (slovenisch: Trnovo ob Soči) gemeint sein.

77

Als Teil des Herzogtums Kärnten gehörte Tarvis 1902 zu Österreich-Ungarn; 1918 wurde es Italien angegliedert.

78

Der Kurort Warmbad ist seit der Antike bekannt für sein Thermalbad. Er gehört zum Stadteil Warmbad-Judendorf und liegt im Süden der Stadt Villach. (Quelle: Wikipedia)

97

In der Zigeunersprache heißt Wien gwinakro foro = Honigstadt, weil das Wort gwin = Honig an Wien anklingt. (Quelle: Art. Die Namen der Städte und Länder in der Zigeunersprache, in: Linzer Volksblatt 56. Jg., Nr. 82 vom 8. April 1924, Seite 8)

98

Grimm und seine Begleiter sahen wohl die Touristenfahrt, die am 16. oder 17. Juni in Paris mit Ziel Wien startete. Quelle: https://www.sn.at/wiki/Fernstreckenrennen_Paris_-_Wien

98

Gemeint sein könnte das verbotene Spiel des Kartenblasens. (Quelle: Spielwiki)

110

Die Firma Pötzelberger Druck GmbH in Meran besteht noch heute. (Quelle: poetzelbergerdruck.it)

111

fs
Das Kürzel «fs» steht für «Feinsilber» oder «feines Silber», also chemisch reines Silber. Die Österreichische Krone der Ausgabejahre 1892–1907 hatte einen Silber-Feingehalt von «nur» 835 ‰. Ihr Nominalwert war jedoch durch das Metall, aus dem sie bestand, (nahezu) vollständig gedeckt («Kurantmünze»). (Quelle: Wikipedia: Feinsilber; und Wikipedia: österreichische Krone)

Erwähnte Literatur

Martin Amschl, Das rote Graz. 150 Jahre Grazer Sozialdemokratie, Graz: CLIO 2018.

Christian Voigt, Robert Grimm: Kämpfer, Arbeiterführer, Parlamentarier. Eine politische Biografie, Gümligen: Zytglogge-Verlag 1980.

Glossar zur Sprache der Wandergesellen und der Buchdrucker

Ausdruck

Erklärung

4 Pfühle
Bett (S. 15, 59)
dufter Kunde
erfahrender Wandergeselle, der die Straße kennt (S. 8, 21)
fechten
betteln (S. 33, 34, 53, 90, 94, 95)
fleppen
Ausweispapiere kontrollieren (S. 16, 64, 65)
Flepperei, Flebberei
Ausweiskontrolle (der Polizei) (S. 65)
Hanf
Brot (S. 22, 25, 26, 91, 95, 102, 113)
hochgehen
der Polizei in die Hände fallen (S. 98)
Klappe
Bett (S. 76, 85, 101)
Kondition
Dienstverhältnis, Anstellung (S. 42)
konditionieren
dienen, arbeiten (S. 42)
Konditionszeit
Zeit des Dienstverhältnisses, der Anstellung (S. 53)
Kunde
Wandergeselle, Walzbruder, Vagabund (S. 8 u. ö.)
Kunst
Arbeit, Gewerbe (S. 42, 51, 89)
Mordstrumm
sehr grosses Ding, Riesenstück (S. 62, 100)
Penne
Unterkunft, Nachtlager (S. 24 , 38, 45, 77, 81, 101, 112)
Plattmachen, Platte reißen
im Freien schlafen (S. 58)
Putz
Polizist, Gendarm (S. 9, 11)
den Rappel haben
(schweizerisch:) missgelaunt sein (S. 9)
«Religion»
politische Einstellung (S. 97)
Schnalle
Suppe (S. 102, 107)
schmoren
trinken (S. 111)
Schwarzkünstler
Buchdrucker (S. 101)
tippeln
wandern (S. 18, 31, 68, 80, 84)
Verkehr
Vereinslokal, wo die Gesellen einkehren (S. 77, 100)
Viatikum
Reisegeld (S. 6, 41, 100, 104, 106)
viatizieren
Viatikum beziehen, Reisegeld in Empfang nehmen (S. 110)